Erschienen 2014 in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG
Bei dem Begriff „Trampen“ ziehen alte, gelbstichige Farbfotos am inneren Auge vorbei: Alles sieht aus wie kurz vor Woodstock. Käfer, Enten und Bullys tuckern über die Straßen und an deren Rändern stehen die eigenen Eltern mit den Gesichtern von John Lennon und Uschi Obermaier. Heute gibt es die Mitfahrzentrale, Fernbustickets ab zehn Euro und Restplatz-Tickets der Bahn ab 19 Euro. Hat überhaupt noch jemand einen Grund zum Trampen? Stehen an Deutschlands Straßenrändern tatsächlich noch Menschen herum, die den Daumen raushalten? Und wenn ja, wer sind sie? Um das herauszufinden, fahren wir einfach mal los, von München nach Hamburg über Berlin zurück in den Süden, mitten in den Sommerferien, und suchen in ganz Deutschland an den Autobahnraststätten nach Trampern. Die einzige Regel lautet: Finden wir jemanden, nehmen wir ihn so lange mit, bis wir jemand neuen finden.
Die Reise beginnt in München, A99 Richtung Norden, Rasthof Vaterstetten. Es schlurfen die Reisenden in Trainingshosen um die Ecken, die Beine-Vertreter und Aufs-Klo-Geher, die sich vom Sanifair-Gutschein noch eine Cola oder eine runzlige Wurst im Brot mitnehmen. Auf den Stühlen vor dem Burger King sitzen zwei Jungs, rauchen und gucken auf ihren Straßenatlas. Die ersten Tramper? Sieht so aus. Der eine rote Haare, der andre dunkelbraune, sie haben große Rucksäcke und einen Collegeblock in der Hand und einen großen, blauen Filzer. Regensburg, sagt der Rothaarige, habe er grade schreiben wollen. Wir bieten ihnen an, sie nach Fürholzen zu fahren, die letzte Raststätte, bevor die Autobahn nach Regensburg Richtung Osten abzweigt.
Jonas hat gerade sein Abi gemacht. Patrick hat seine Ausbildung als Schreiner absolviert. Sie sind 20 Jahre alt und kommen ursprünglich aus Trier. Vor einer Woche sind sie von dort aus Richtung Chiemsee Reggae Festival gestartet. Danach haben sie sich noch für eine Nacht in einer Pension in Österreich eingemietet, um sich zu erholen und zu duschen. Jetzt wollen sie nach Prag, vielleicht für eine Woche, mal sehen, und danach wieder nach Hause. Es ist ihre erste große Tramp-Tour. Sie wollten bewusst nicht mit der Bahn oder dem Bus fahren, sie wollten ein echtes Abenteuer erleben. „Ist ja für uns beide jetzt ein Lebensabschnitt, der da vorbei ist nach der Schule und der Ausbildung“, sagt Jonas. Deshalb hätten sie beschlossen, sich jetzt mal etwas zu gönnen. „Hat ja auch lang genug gedauert.“ Sie sind schon mit einem Forscher mitgefahren, der die meiste Zeit des Jahres in der Antarktis verbringt. Er hat den beiden den Klimawandel erklärt. Bei einer jungen Bautechnikerin saßen sie auch schon im Auto, „die hat schon fertig studiert und konnte uns viel über das Studium erzählen, voll praktisch zu wissen für die Zukunft“, sagt Patrick. Sie erzählen auch, dass sie sich vor der Reise ein bisschen schlau gemacht haben, wie Trampen am besten funktioniert. „Wir ziehen immer Hemden an, das ist seriöser.“ Rauchen sollte man auch nicht gerade während des Wartens. Trinken erst recht nicht. Eine Straßenkarte macht sich gut und ein schönes Schild. Was lernt man noch beim Trampen? Jonas sagt: „Meine Lektion ist: Was einem im Leben weiterbringt, ist die richtige Mischung aus Freundlichkeit und Dreistigkeit.“ Und dann sind wir schon in Fürholzen. Die beiden steigen aus.
Irgendwo hinter Hannover hockt einer und lässt seinen Kopf über einer Dose Radeberger hängen
Wir fahren weiter auf die A9. Weißer Himmel über uns, manchmal ein kurzes grelles Loch darin. Bäume, Wiesen, Leitplanken rasen vorbei. Kurz hinter Würzburg auf der Raststätte Haidt dann endlich Jonathan. Er steht direkt dort, wo die Autos wieder auf die Autobahn rausfahren, ganz am Ende, auf sein Pappschild hat er geschrieben: A7, Richtung Hamburg, Lübeck. Ein Freund hat ihn zum Autobahnzubringer Nürnberg gebracht, ab da ist er mit einem tschechischen LKW-Fahrer bis hier gekommen. Wir erklären, dass er raus muss, so bald wir jemand neuen finden. „Besser als nichts“, sagt er, „kein Problem“. Was sonst sollte ein Trampermotto sein, wenn nicht dieses?
Jonathan ist 23 und macht in Nürnberg eine Ausbildung zum Zimmermann. Er ist auf dem Weg in den Urlaub an die Ostsee. Freunde von ihm arbeiten dort in einem Hotel, mit ihnen wird er jetzt eine Woche lang am Strand zelten, Drachen steigen lassen und den Sommer genießen. Seine Freundin wird er dort auch treffen, sie kommt direkt aus ihrem Spanienurlaub in den Norden gereist. Sie wollen dann noch ein paar Tage nach Berlin fahren, sie wohnt dort, die beiden führen eine Fernbeziehung. Über die A9 wird er dann zurück trampen nach Nürnberg. Die A9 sei gut, sagt seine Freundin immer. Die hat ihn überhaupt erst aufs Trampen gebracht, sie reist fast überhaupt nicht mehr anders. Weil es kostenlos ist und weil man nichts planen muss. Jonathan selbst kennt viele Trampergeschichten von Freunden. Und wir haben viel Zeit zum Reden, denn obwohl Jonathan jederzeit fürchten muss, rauszufliegen, finden wir doch keinen einzigen Tramper. Also fährt er immer weiter mit und erzählt. Geschichten wie diese: Freunde von ihm bleiben auf dem Weg von Georgien nach Istanbul nachts an einer Tanke im Nirgendwo hängen. Ein Polizeibus hält schließlich an, darin drei Typen mit Maschinengewehren. Einsteigen, bedeuten sie ihnen und fahren drei Stunden mit ihnen durch die Nacht. Irgendwann hält der Bus an, ein Polizist steigt aus, quatscht einen LKW-Fahrer an und holt dann die Jungs: Raus, raus, hier rüber, der hier fährt euch nach Istanbul. Ein anderes Mal, auch in der Türkei: Ein Freund von Jonathan ist allein unterwegs, steigt in einem LKW ein, irgendwann sagt der Fahrer zu ihm: So, jetzt fahr du mal, ich bin müde, ich will schlafen.
Trampen, das ist vielleicht immer auch mit der Hoffnung auf Geschichten verknüpft, die man sich nicht besser hätte ausdenken können.
Wir fahren und fahren und fahren, in der Mitte Deutschlands besteht das Land aus lauter Hügeln, dazwischen Städtchen mit spitzen Dächern. Es wird Mittag, Nachmittag, später Nachmittag. Irgendwo hinter Hannover hockt einer vor der Tankstelle und lässt seinen Kopf über einer Dose Radeberger hängen, er döst und macht keine Anstalten, sich um eine Mitfahrt zu bewerben. Jonas und Patrick, denken wir, hatten schon Recht. Nüchterner Blick und sauberes Hemd machen sich eindeutig besser, wenn man weiter will. Aber wer weiß, ob dieser Typ überhaupt weiter will.
Wieder rauf auf die Autobahn. Draußen wird es windiger und sonniger, alle 50 Kilometer weiter liegt mehr Norden in der Luft. Irgendwann beginnt rechts und links von der Fahrbahn lilafarben die Heide zu blühen, die Sonne steht jetzt tiefer und blitzt ab und zu orangefarben ins Auto. Kurz vor Hamburg lassen wir Jonathan raus, von hier aus braucht er jemanden, der ihn mit nach Lübeck nimmt.
Am nächsten Tag von Hamburg nach Berlin. Es gibt Foren im Internet, da tauschen Anhalter sich über die besten Orte und Verhaltensstrategien zum Trampen aus, sie heißen hitchwiki.org, anhalterfreunde.de oder hitchbase.com. Am Horner Kreisel in Wandsbek, so steht es dort oft, soll man gut stehen können. Hier bringt einen direkt ein HVV-Bus hin, hier geht es gleich auf die Autobahn. Doch: niemand. Das blonde Mädchen mit der vermeintlichen Reisetasche ist aus der Nähe betrachtet doch nur ein blondes Mädchen mit einem Hund. Auf der Fahrt durch Mecklenburg-Vorpommern Leere. Von den berühmten Seenplatten nichts zu sehen, nur flaches Land, man erwartet, dass gleich irgendwo ein Baum umfällt und wieder eine Holzlatte mehr von einer leer stehenden Hütte kracht. Die Raststätten liegen verloren in die Landschaft gestreut, auf den Parkplätzen dazwischen stehen statt Toilettenhäuschen nur je zwei Dixi-Klos. Nirgends ein Daumen, nirgends ein Pappschild. Ist Trampen heute doch die Ausnahme?
In Berlin-Michendorf und in Berlin-Grunewald, da sollen sie angeblich Schlange stehen, die Tramper, das hat uns Jonathan geraten. Wir versuchen es an der Raststätte Grunewald. Und tatsächlich: überall Tramper. Der ganze Rasthof ist von herbstlichem Sonnenlicht angestrahlt, unter einigen Bäumen tanzen die Schatten und stehen die jungen, vorrangig langhaarigen Menschen mit Backpackerrucksäcken zusammen und reden, als würden sie sich schon lange kennen. Wir geraten mit Vera und Stefan ins Gespräch, sie Typ Katie Holmes, gelbe Gummistiefel, große Mütze, er Typ Into-the-wild-Hauptdarsteller. Sie müssen nach Freiburg. Während wir Fotos von ihnen machen, tauchen immer mehr Tramper auf. Berlin, das Tramper-Mekka.
Unser alter Deal gilt immer noch: Vera und Stefan dürfen nur so lange mit, bis wir die nächsten finden. Klar, sagen sie. Und weiter als Nürnberg geht auch gar nicht für sie, sie müssen ja Richtung Freiburg. Vor zwei Uhr nachts sind sie heute sicher nicht zu Hause, schätzen sie. Jetzt ist es halb vier am Nachmittag. Stefan ist 26 und Sportfotograf, Vera 21 und Studentin der Visuellen Medien in Karlsruhe. Sie kommen gerade vom 3000-Grad-Festival in Mecklenburg-Vorpommern. „Hätte man sich aber sparen können“, sagt Stefan, „das war eher ein Oktoberfest für Hipster, es gab sogar Lebkuchenherzen zu kaufen“. Stefan trampt schon lange. Mit 20 das erste Mal. Mit Freunden nach Spanien, drei Monate lang. Und danach durch ganz Europa. Vera trampt erst, seit sie Stefan kennt. Allein würde sie es auch nicht machen als Frau, sagt sie. Vor Kurzem waren sie wandern in den Schweizer Alpen, und als sie abends von Basel aus nach Freiburg zurück wollten, hat sie ein Mann, der leider selbst nur nach Basel musste, zum nächsten Bahnhof gefahren und ihnen das ICE-Ticket nach Freiburg plus jeweils zehn Euro für einen Kaffee auf der Fahrt ausgegeben. Einfach so. Er bestand drauf. Die beiden taten ihm einfach leid, wie sie so völlig erschöpft am späten Abend an einer Tankstelle warteten und niemanden fanden, der sie mitnehmen wollte. „Er hätte ja auch das Regionalbahnticket zahlen können“, sagt Stefan. Aber Stefan hat auch schon schlechtere Erfahrungen gemacht. In Spanien ist er mit zwei Leuten mitgefahren, da fing der Beifahrer während der Fahrt an, Heroin zu rauchen. Und weil sie vergessen hatten, zu tanken, blieben sie auch noch stehen und mussten abgeschleppt werden.
Verändert sich eigentlich etwas Wesentliches in einem durch das Trampen? Lernt man Gelassenheit? „Naja“ sagt Vera, „wenn einen mal längere Zeit keiner mitnimmt, fängt man schon schnell an zu fluchen, aber. . .“, sagt Vera. „Du bist schon so viel geduldiger geworden“, fällt ihr Stefan ins Wort. „Und seit du dabei bist, werden wir sowieso viel schneller mitgenommen.“ Im Rückspiegel ist Veras Grinsen zu sehen. In einigen Tagen werden die beiden sich von Freiburg aus wieder aufmachen, wieder per Anhalter. Diesmal nach Bordeaux. Stefan muss arbeiten, Fotos von Surfern machen, Vera will einen Freund besuchen.
Wenn Mecklenburg-Vorpommern die nichtssagendste Autobahnlandschaft Deutschlands hat, dann folgt Sachsen dicht auf Rang zwei. Wieder totes Gestrüpp und flache Felder. Irgendwann fahren wir zwischen einer riesenhaften Armee von Windrädern hindurch. Die Sonne ist längst hinter uns, sie ist in Berlin geblieben, es ist erst kurz vor sechs am Abend, aber es wird immer dunkler am Himmel. Bald fängt es an zu regnen. In Strömen. An der nächsten Raststätte sagt Stefan zu Vera: „Na komm, raus jetzt, oder?“ Sie müssen sich langsam Richtung Westen orientieren. „Hm“ sagt Vera. Die Raststätte ist wie leergefegt, niemand will im Regen stehen. „Na gut.“ Schnell die Rucksäcke hinten raus, dann eilen sie beide in den Verkaufsraum der Tankstelle, im Rückspiegel sehen wir noch einmal kurz Veras gelbe Gummistiefel aufleuchten, dann sind sie verschwunden und wir beschleunigen.
Heute finden wir keinen einzigen Tramper mehr. Am nächsten Tag versuchen wir es noch einmal von München aus Richtung Süden. In Vaterstetten sitzen wir lange an der Raststätte rum. Zwei riesige schwarze Beat the street-Tourbusse rollen auf den Parkplatz. Die Fahrer tragen Robbie-Williams-Tourshirts und das WLAN heißt irgendwas mit ROW.
Dann taucht auf einmal Julian auf, ein großer, blonder Junge mit Rucksack, an dem ein grüner Schutzhelm baumelt. Klar, passt, wenn wir ihn nur zwei, drei Raststätten weiter mitnehmen. Er ist 25, kommt aus Stuttgart. Heute lief es gut, er hat nie länger als 30 Minuten warten müssen, wir sind die vierten, die ihn heute mitnehmen. Vorhin ist er mit einem „sehr lustigen Notarzt in seinem aufgepimpten Audi mit Lachgas-Zusatzantrieb“ mitgefahren. Julian hat Sicherheitsingenieurwesen studiert, will aber als Schluchtenführer arbeiten und macht gerade die Ausbildung. Er ist auf dem Weg nach Slowenien, wo er im So?a-Tal eine Tour mitführt, als sogenannter „tour assistant“. In Salzburg möchte er vorher noch eine Freundin besuchen und in Kroatien seinen Bruder. Das Trampen hat Julian mit 15 angefangen. Er wollte damals in einem Sommer nach Italien und hatte kein Geld, also hat er vier Freunde überredet . Und dann hat er damit einfach nicht mehr aufgehört. Egal, wo er sich gerade aufhielt, ob in den USA, Kanada, Äthiopien, Marokko, Afrika, im ehemaligen Ostblock oder in Italien, das Trampen war sein präferiertes Transportmittel. Weil man mit den Menschen ganz anders in Kontakt kommt als im Zug. Weil es unkompliziert und spontan ist und kostenlos. Und weil es, das scheint überhaupt bei allen die Hauptmotivation zu sein: abenteuerlich ist. Niemand, der trampt, weiß vorher, wie lange er unterwegs sein wird. Niemand weiß, zu wem er ins Auto steigt und ob er am Schluss auch dort landet, wo er hinwollte. Man kann sagen: Man begibt sich beim Trampen bewusst in Gefahr. Man kann aber auch sagen: Man gibt sich der Unberechenbarkeit des Lebens hin. Man fordert sie heraus. Man übt sich im Loslassen und im Vertrauen. Im Glauben daran, dass schon alles gut gehen wird. Immer mit der kleinen Hoffnung im Hinterkopf, etwas zu finden, das man nie gesucht hatte.
Als wir Julian in Holzkirchen rauslassen, liegt das frühherbstliche Abendlicht tief über der bayerischen Autobahnlandschaft. Man sieht braune Kühe, alte Trecker, pittoreske Bauernhäuschen und ganz hinten den Alpensaum. Wir wechseln auf die andere Spur, zurück in die Stadt. Als wir an der Raststätte vorbeifahren, an der wir Julian gerade abgesetzt haben, suchen wir sie mit den Augen nach ihm ab. Er ist nicht mehr da.