In Satingewittern

In Satingewittern

Erschienen 2014 in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG

Eine der größten Misslichkeiten des Alltags ist die, dass man sich als erwachsene Frau kaum ernstzunehmende Unterbekleidung zulegen kann. Der Massenmarkt für Damenunterwäsche scheint nämlich in einer Art Zeitkapsel gefangen zu sein. Nur so lässt sich erklären, dass man sich in den Unterwäscheabteilungen 2014 zwischen zwei Frauenbildern entscheiden muss: der ins Lolita-Alter herangewachsenen Prinzessin Lillifee oder der frivol-koketten Dita Von Teese.

Auf den Werbeplakaten an der Bushaltestelle und in den Broschüren verfolgen uns die immer gleichen Szenen: Eine Frau räkelt sich in High-Heels und kompliziertem Rüsch- und Nietengeschirr, das unter keine normale Klamotte passen dürfte, in einer leeren Badewanne. Oder aber es ist das weichgezeichnete Rehaugen-Mädchen, das den ganzen Tag damit beschäftigt zu sein scheint, halb nackt auf Zehenspitzen seine Sockenschublade auf- und zuzumachen. Dezente, ansprechende, tragbare Wäsche? In der Werbung Fehlanzeige.

Dabei dämmerte selbstdenkenden Frauen bereits in der 68er-Bewegung, dass die Sache mit BH und Korsage mal modernisiert werden sollte – aber das scheint vergessen zu sein. Ist ja auch lang her. Aber was ist zum Beispiel mit den Neunzigern? Die Calvin-Klein-Kampagne mit Kate Moss und Mark Wahlberg in den Hauptrollen! In der die beiden sich so herrlich angeschwitzt in Unisexunterwäsche und Unisexjeans aneinander rieben? Schwarz-weiß, pur, androgyn. Eine heißere Unterwäschewerbung für den Massenmarkt hat es weder davor noch danach gegeben. Das hat das Label auch erkannt und die Teile gerade wieder neu aufgelegt. Aber kommt diese Schlichtheit noch mal in der Wäscheschublade an? Da dominieren heute die barocken Großlingeristen, bereits die Namen der Firmen verraten viel über den erwünschten Charakter der Zielfrau: Passionata, La Perla, Chantelle, Victoria’s Secret, Agent Provocateur. Übelstes Sinnlichkeitsdiktat! Der Begriff Unterwäsche selbst ist längst Rarität. Überall „Lingerie“ und „Dessous“, „frivol“, „verführerisch“, „romantisch“, „verspielt“, „lasziv“ und gefälligst „geheimnisvoll“ sollen die Teile heute sein. Dabei weiß man doch von „Trend-Boutiquen“ oder „Schlemmer-Filets“: Dinge werden nicht automatisch zu dem, was man drauf schreibt.

Aber das hat sich irgendwie noch nicht ganz bis unter die Gürtellinie rumgesprochen. Noch der schlichtesten Unterhose werden Schleifchen, ein Spitzensaum oder Glitzersteinchen angeheftet. Aus eigentlich brauchbaren Basics werden seltsame Hybride zwischen Kinderpyjama und Negligé. Die Angst ist offenbar groß vor dem, was abfällig Baumwollschlüpfer genannt wird. Als Frau mit Neigung zu zeitgemäßer Mode steht man in den Satin- und Tüllgewittern und denkt: hä? Will das echt jemand? Bekäme mein Intimpartner nicht einen Lachanfall, wenn so was zum Vorschein käme? Warum muss alles so nach My-Dirty-Hobby und Tabledance-Stange im Mömax-Wohnzimmer aussehen?

Sucht man die Website von Rigby&Peller auf, immerhin Wäsche-Lieferant des britischen Königshauses und somit vielleicht anmutig und zeitlos, empfängt einen auf der Startseite die „Super-Sexy-Play-Box in Kooperation mit Aubade Paris.“ Zu sehen sind Hintern und Brüste in Unterhosen und BHs, die nichts mehr mit dem eigentlichen Zweck von Unterkleidung zu tun haben: Schutz der heiklen Stellen. Wie kann das sein? Obendrüber stehen angeblich alle auf zeitloses skandinavisches Design, wollen androgyne Céline- und Jil-Sander-Kreationen und untendrunter wird dann auf die immer selben abgewichsten (Pardon, aber es passt in diesem Fall so gut!) Vorlagen von Sexiness zurückgegriffen. Gut 40 Prozent aller Damenunterwäsche wird angeblich von Männern gekauft. Vielleicht liegt hier das Problem. Viele Männer glauben, es wäre Pflicht als cooler Typ, einer Frau „sexy“ Unterwäsche zu schenken. Dabei killt ja nichts die Stimmung zuverlässiger als: „Zieh das mal an, darin finde ich dich scharf!“

Colleen Hill, die Kuratorin der diesjährigen Ausstellung „Exposed: A History of Lingerie“ im Fashion Insitute of Technology in New York, schreibt in einem der Begleittexte: „Als letztes Hindernis vor dem nackten Körper ist Unterwäsche unmittelbar erotisch.“ Überraschung! Sexappeal hat gar nicht so viel damit zu tun, wie viel Spitze an einer Unterhose dran ist! Sondern damit, dass danach nur noch die Nacktheit kommt. Es geht ja nicht um die Unterwäsche, es geht um die Intimität des noch nicht ganz Nackten.

Unterwäsche zieht ihre Anziehungskraft aus dem Bei-sich-Sein ihres Besitzers: In ihr ist der Mensch an den meisten Tagen ganz mit sich allein. Und deshalb erfüllt sie ihren voyeuristischen Reiz für andere auch erst dann, wenn sie glaubhaft ist, wenn sie getragen wird wie eine Selbstverständlichkeit, federleicht, eben nicht wie eine sexy Maskerade. Am Ende gilt, was einem die Großmutter schon als kleines Kind geraten hat: Zieh‘ etwas Hübsches an, in dem du dich wohlfühlst, und du wirst umwerfend sein. Man kann auch sagen: Verkleide dich nicht.

Und speziell Unterwäsche eignet sich doch für solch eine leichtfüßige Haltung am allerbesten. Sie ist und soll nichts weiter sein als die erste Schicht Kleidung für die empfindlichen Partien – leicht, tragbar, auf Englisch so schön „first layer“ genannt. Die perfekte Unterhose ist im Stoff zart genug, dass sie sich nicht unter jeder engeren Klamotte plump abzeichnet, und trotzdem stabil genug, um ihre Inhalte gut zu verpacken. Sie ist so schön, dass man sich jeden Morgen freut, ein frisches Exemplar aus der Schublade zu ziehen; so kostbar, dass man sich immer wieder vornimmt, sie zu bügeln und zu falten – und robust genug, es dann doch zu lassen.

Ober- und Unterteil müssen angezogen nicht unbedingt zusammenpassen, jedenfalls nicht im Sinne choreografierter Sets, wie sie im Laden hängen. Meist werden die Dinge doch erst mit etwas Chaos schön. Was die Sexyness angeht: In Wirklichkeit besteht wahre Erotik doch darin, dass sie feste Erwartungen unterläuft. Wie spannend ist das winzige Loch im Stoff ein paar Zentimeter über dem Steißbein, das wie zufällig noch ein Stückchen mehr aufreißt. Wie bezaubernd sieht die mangels eigener frischer Wäsche morgens geborgte Männerunterhose am Frauenhintern aus. Und wie lässig ist es, zu keinem Zeitpunkt einen BH ausziehen zu müssen, weil man an den meisten Tagen sowieso lieber enge Unterhemden trägt?

Dafür, dass jede Frau mindestens ein Dutzend sehr gute Unterhosen verdient, sind die stilsicheren Wäschehersteller fatal unterrepräsentiert. Man muss vielleicht erst mal den Skiunterwäsche-Impuls überwinden und zu Hanro, Zimmerli oder Schiesser gehen. Auch Calvin Klein gibt es wie gesagt wieder in alter Form und edle Understatement-Marken wie Erès, Yasmin Eslami oder Shade – die kriegen es tatsächlich hin, aus Spitze, Seide und anderen zarten Materialien Unterwäsche zu machen, die zwar über das Funktionale bisweilen hinausgehen mag, durch ihre avantgardistischen, oft bügellosen Schnitte aber nie an Souveränität verliert.

Über das Einkaufsportal Net-a-porter findet man auch zu der Marke Bodas, die sich vor allem stilvoller Unterwäsche für stillende Mütter verschrieben hat. Das Ergebnis ist so elegant, dass man es auch als junge, kinderlose Frau sofort anziehen würde. Auch hier wird wieder anschaulich, wie verdreht die Dessouswelt ist: Ausgerechnet die Frau, die erotisch als zeitweise etwas lahmgelegt gilt, bekommt die innige und klare Unterwäsche, während alle anderen sich mit Spitzenkitsch à la Marie Antoinette rumschlagen müssen. Intimissimi, eine Tochter des italienischen Wäschekonzerns Calzedonia, hat sogar eine Annäherung an die perfekte Unterhose im Sortiment. Leider bekommt man sie in den Läden nur auf Nachfrage, weil die Stücke – Uni-Farben und mit schlichter Nahtlosigkeit auf ihre Essenz reduziert – dauerhaft in den Lager-Schubladen versteckt sind.

Wer im Netz tiefer schürft (Achtung: es geht immer noch nur um eine schlichte Unterhose!) findet junge Independent-Lingerie-Labels wie zum Beispiel „Ten Undies“, deren Macherin Daphne Javitch sich übrigens auch auf Instagram lohnenswert folgen lässt. Man findet in ihren Bildern eine Art Pinnwand für ein ganz bestimmtes Lebensgefühl – nur am Rande geht es um die Unterhosen ihres Labels, vielmehr postet sie Zeitschriftenausrisse, Alltagsszenen, Fundstücke. Man spürt: Maßgeblich für den Kick ist nicht die Unterwäsche. Sondern der ganz eigene Style, ein Wissen um das, was einem gefällt und einem steht. Leandra Medine, eine der lässigsten Modeautorinnen der Blogosphäre und Betreiberin des Blogs „The Man Repeller“, schreibt über die Entwürfe von Ten Undies sehr treffend: „Eine arschcoole Unterwäschenmarke. Die perfekte Lösung für alle, die Spitze satthaben, aber lieber sterben würden, als in einem öden BH gesehen zu werden.“

Andere Marken heißen Lonely Label oder Velvette, ihre Macher verfolgen alle dieselbe Vision: Sie wollen weg vom Häschenhaften, wollen Produkte für Frauen, die sich ihre Unterwäsche aussuchen wie ihr Parfum: in erster Linie für sich selbst. Die Marke Negative Underwear sagt gleich, wie es ist, und bewirbt ihre BHs mit der Ansage: „Bras don’t have to suck“. Die Anzeigen dieser jungen Marken unterscheiden sich grundlegend von denen der großen. Ihre Ästhetik ist die von analogen Schnappschüssen normaler Frauen mit unterschiedlichsten Figuren, die eines eint: Sie sind auch mit sich selbst eins. Sie haben Style. Haltung.

Und dann ist da noch Acne mit seiner radikalen neuen Unterwäsche-Kollektion, Chefdesigner Johnny Johannson sagt dazu: „Unterwäsche sollte entweder beige oder hautfarben sein, denn eigentlich bevorzuge ich gar keine Unterwäsche.“ Die Kampagne dafür ist moderner und skandinavischer als Calvin Klein in den Neunzigern, aber doch vom selben Schlag. Sich harmlos bewegende Models in einer komplett undekorierten Nude-Unterhose. Die Kampagne ist absichtlich antisexy, und genau das macht sie so aufregend.

Das Dumme bei all diesen Positivbeispielen: Sie sind fast ausschließlich im Internet erhältlich. Und oft nicht mal dort, sondern nur in ausgewählten Shops irgendwo in Paris, New York, Tokio. Bei einer so selbstverständlichen Sache wie Unterwäsche will man das gerade nicht: auf Weltreise gehen oder lang im Internet rumbestellen. Mit der Passform von Unterwäsche ist es schließlich noch komplizierter als mit Schuhen. Wer rennt schon für ein bisschen Unterwäsche drei Mal zur Post und zahlt Zollgebühren?

Es braucht also noch mehr Independent-Geist im Massenmarkt der Unterwäsche. Warum traut sich nicht mal jemand von den Großen, Werbung im Stil der Anfangsszene von „Lost in Translation“ zu machen? Wie Scarlett Johansson da auf dem Hotelbett liegt, in ihrer hautfarbenen, leicht transparenten Unterhose. Gar nicht sofort sexy, weil sich das Auge erst mal dran gewöhnen muss, keinen Size-Zero-super-Glimmerbodylotion-Hintern zu sehen, sondern den einer Frau mit Hüfte. Toll ist: Man nimmt es ihr wirklich ab, dass sie so rumliegt, dass sie allein ist und nicht mit Besuch rechnet und sich dann später den Fuß an der Bettkante stößt. Beiläufige Unterwäsche ist hocherotisch!

Schön wäre, wenn sich endlich durchsetzen würde, was Alexander Wang schon 2006 so mutig behauptete: „Eine moderne Frau denkt nicht darüber nach, ob man einen Sportbüstenhalter außerhalb des Gyms tragen darf.“ Dass das auch 2014 noch nicht in der Realität angekommen ist, erklärt vielleicht ein anderes, sehr trauriges Zitat vom selben Wang: „Modernität und Mainstream vertragen sich nicht.“ Der Mainstream-Markt verkauft den Leuten also weiterhin und gerade vor Weihnachten die Idee, dass „der passende String“ zum „verführerischen, halbtransparenten Balconette-BH“ sie zur Sexbombe macht. Eine nicht nur halbtransparente Illusion.