Ich sammle seit vielen Jahren in Notiz- und Skizzenbüchern nicht nur Notizen, sondern vor allem Ausgerissenes und Eingeklebtes – in dieser Kolumne erzähle ich mindestens einmal im Monat zu ausgewählten Seiten kleine Geschichten. Um keine Folge zu verpassen, bitte meinen Newsletter abonnieren.
Als ich klein war, gab es bei uns zuhause eine Verkleidungskiste. Ich weiß nicht, ob jeder Haushalt mit Kindern eine Verkleidungskiste hat, mir aber erschien die Verkleidungskiste als integraler Bestandteil eines Zuhauses, mindestens ebenbürtig mit Badezimmer und Gummistiefelsammlung.
In unserer Verkleidungskiste befanden sich keine Faschingskostüme, sondern aussortierte Kleidungsstücke meiner Eltern. Es waren Federboas darin, halbdurchsichtige Tücher in verschiedenen Blautönen, abgetrennte Mantelkrägen, verschiedene Mützen und Hüte, ein löchriges Jacket, Stoffgürtel mit Leoparden- und Blumenprints, eine Bluse mit Papageienmuster.
Man konnte damit keine einzige offiziell gültige Faschingsverkleidung herstellen und trotzdem übte die Kiste große Anziehungskraft auf uns Kinder aus. In Tücher gehüllt, von Federboas umschlungen und mit abgetrennten Mantelkrägen geschmückt liefen wir durch Haus und Garten und fühlten uns angenehm anders als sonst, Protagonisten einer Improvisation unklaren Genres.
Ich erinnere mich, dass viele dieser Kleidungsstücke nach etwas rochen, Rauch und Parfumreste, vielleicht von einem letzten Einsatz auf einer Party. Allein dieser übriggebliebene Duft war eine Verkleidung für sich, wenngleich sie nicht zu erklären, sondern nur zu fühlen war: eine Ahnung von Volljährigkeit lag darin, eines eigenen selbstbestimmten Lebens, das sich viel später, weit hinten die lange und einzige Straße unseres Dorfes hinunter in einer eventuellen Zukunft ereignen würde.
War tatsächlich Fasching, kam die Kiste nicht zum Einsatz. Wir äußerten unsere sehr konkreten Verkleidungsideen und meine Mutter, oft in Zusammenarbeit mit einer von beiden Großmüttern versuchte, diese Kostüme irgendwie zusammenbauen. Ich war mehrmals Katze, dann Vampir, später Pippi Langstrumpf, einmal Bibi Blocksberg. Eine Zeit lang machte es mir Spaß, mir Verkleidungen auszudenken, die kaum Aufwand erforderten: Streichholz (alles Beige, oben rote Mütze). Gelber Sack (gelber Sack). Außerirdischer (alles Grün, Alufolienantenne an Mütze befestigt).
Mit elf ging ich einem vorpubertären Anarchiebedürfnis folgend als Punk, danach erinnere ich mich nicht mehr an viele Verkleidungen. Ein einziges Mal war ich beim Kölner Karneval und ging als Gespenst, um von niemandem näher betrachtet, wohl aber durch meine zwei Augenlöcher alle anderen betrachten zu können. Ende Zwanzig ging ich zu einer Kostümparty im Schlafanzug mit Bettdecke, müde vom Ausgehzwang der Zwanziger.
War ich danach jemals wieder auf einer Verkleidungsparty? Ich glaube nicht. Vielleicht, weil Parties mich grundsätzlich nicht mehr besonders interessieren. Abends bin ich müde. Freude daran, mich heute auf jene, morgen auf eine andere Weise zu kleiden, meine Haare abzuschneiden oder umzufärben habe ich auch ohne kalendarische Verabredung. Ich liebe die Möglichkeiten von Mode, Make-up und Accessoires, vielleicht reichen sie mir aus, mich hin und wieder in neue Ideen von mir zu verwandeln. Vielleicht sind auch die fiktionalen Texte, an denen ich schreibe eine Art der Kostümierung.
Vielleicht habe ich der Idee der großen kalendarisch festgelegten Kostümierung aber auch einfach nur sehr lange keine Aufmerksamkeit mehr gewidmet. So, wie einem irgendwann einfällt, dass man sehr lange nicht mehr Schlittschuhlaufen war. So lange, dass ein Teil des eigenen Unterbewussten möglicherweise zu glauben begonnen hatte, man hätte keine Berechtigung zum Schlittschuhlaufen, es gebe heute keine Eishallen mehr oder man hätte keine Zeit, sich zu so etwas Nutzlosem wie Schlittschuhfahren zu verabreden.
Viel besser als eine Kostümparty oder eine Verabredung zum Fasching fände ich es allerdings, während der traditionellen Karnevalstage jeden Tag in einer anderen Verkleidung allein durch die Stadt zu spazieren und alltäglichen Besorgungen nachzugehen, ohne dass mich irgendwo irgendjemand in einer Verkleidung erwartete. Ich ginge als Sparifankerl ins Museum, als Fisch ins Schwimmbad, liefe als Rabe zum Bäcker und tauchte als ägyptischer Pharaonenhund bei einer normalen Verabredung auf.
Meine Verbündeten wären an diesen Tagen nicht länger jene, denen Verkleidungen zu albern und der übliche Fortgang der Dinge wichtiger sind, sondern das Zebra an der Ampel, der Glöckner am Zigarettenautomaten oder die missmutige Biene in der U-Bahn. Stumm würden wir uns zunicken und einander erkennen, ohne sonst irgendetwas teilen zu müssen – außer vielleicht den leisen Wunsch, der Fasching möge endlich im Sommer stattfinden. Denn nichts ruiniert den Zauber eines Kostüms zuverlässiger als die Winterjacke eines homo sapiens.