Erschienen in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG
Das ist jetzt wieder die Zeit. Es ist so heiß, dass man sich die Füße auf dem Asphalt verbrennt. Autofahrer werden vor sogenannten Blow-ups gewarnt. Niemandem fällt mehr etwas ein, alle werden träge und lahm und in den Zeitungen steht irgendwas über durstige Baby-Pandas im Zoo. Die Leute nennen es Sommerloch. Aber was genau heißt das eigentlich? Dass alle im Urlaub sind? Nein, das Sommerloch, das breitet sich ja über alles aus, über die Weggefahrenen und über die Hiergebliebenen. Über die Arbeitenden, die Kranken und die Immer-noch-durch-den-Park-Jogger.
Das Sommerloch wird von der Hitze gemacht. Klar. Aber es ist irgendwie auch das unausgesprochene Allgemeinwissen um die Erlaubnis der Nicht-Bewegung. Ein großes, kokett die Hitze als Ausrede benutzendes „Ich kann nicht mehr, es ist so heiß“-Seufzen, das aber viel leichtfüßiger und optimistischer daherkommt als das vielleicht eigentlich gemeinte: „Ich kann nicht mehr, das Leben ist so anstrengend“. Vielleicht sollte man mal genau da hin, in dieses Nichts, in dieses Sommerloch und gucken, wie es da drinnen aussieht? Klingt seltsam, aber auf einen Versuch kann man es ja mal ankommen lassen.
Weil es so ein unsichtbares Phänomen ist, lässt sich das Sommerloch natürlich eigentlich nicht direkt besuchen. Aber wenn man einfach herumfährt an so einem Hitzetag, dann meint man es manchmal zu sehen, wie ein wabernder Geist flirrt es über die leeren Kreuzungen und gelben Felder. Nahe der Stadtgrenze jedenfalls finde ich schnell einen Ort, der so heiß und staubig und unbewegt ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Man könnte ihn Englschalking oder Lochham nennen, aber das ist eigentlich egal, denn solche Orte gibt es ja viele – mit Stromkasten und Kornfeld und westernhaften Oberleitungen. Zwei eiserne Fußballtore vor einem Waldstück, auf einer großen, grünen Wiese zwischen diesem blendend goldfarbenen Weizen, der gerade überall wächst und im Wind aussieht wie Seide. Als Kind habe ich die deshalb Seidenfelder genannt und war furchtbar enttäuscht, als ich das erste Mal hineinlief und sie sich überhaupt nicht seidig anfühlten, sondern kratzig und hart.
Ich habe nichts dabei, nur ein dünnes Handtuch und eine Wasserflasche und mein Notizbuch und zwanzig Euro in der Hosentasche. Wer das Nichts des Sommerlochs sucht, muss bei sich selbst anfangen. Und es ist herrlich, so wenig zu besitzen. Ich wünsche mir sofort, ab jetzt immer so wenig dabei zu haben.
Es ist heiß in der Sonne, unterm Fußballtor finde ich einen interessanten, stabförmigen Halbschatten und da bleibe ich sitzen. Ich trinke die halbe Wasserflasche aus und die andere Hälfte schütte ich mir über den Kopf, so dass mein Hemd und meine Hose komplett nass sind. Das kann jetzt erst mal trocknen. Das tut gut.
Und dann? Dann bin ich vom Nichts umgeben.
Ich fühle mich achtjährig und wie irgendetwas zwischen Huckleberry Finn und Rasmus aus „Rasmus und der Landstreicher“. Ich liege und liege und liege und anfangs drehe ich mich noch hektisch um, ob jemand kommt, jemand was von mir will, vielleicht mich angreifen oder ausrauben oder entführen. Denn absolute Einsamkeit und Ruhe, das ist einem zuerst nicht geheuer. In der Ferne sehe ich einen DHL-Wagen über die Landstraße fahren. Manchmal auch Radfahrer, ganz langsam und träge, jeder zweite mit Helm. Ich weiß nicht, wie viel Uhr es ist. Das Sommerloch ist auch ein Zeitloch, der Tag ist so groß und ausgedehnt, und wenn man das mal zulässt, fällt einem auch wieder ein, dass Zeit ja nur eine Erfindung ist, ein Ordnungsversuch, der an sich keine Bedeutung haben muss und den man einfach weglassen kann.
Und wenn wir schon beim Nichtwissen sind: Ich weiß sowieso überhaupt nicht viel, von hier aus. Ich weiß nicht, welches Jahr es ist, ich weiß nicht, ob es das Internet gibt. Ich weiß nur, dass es heiß ist und dass ich nur das besitze, was hier bei mir ist und dass es nicht viel ist. Und ich weiß, dass sich das herrlich anfühlt. Das Nichts ist einfach. Ich bin nach den ersten Momenten der Ankomm-Unruhe schnell einfach nur glücklich. Was wirklich ungewöhnlich ist, weil es eigentlich immer etwas gibt, das mich unglücklich macht. Und so liege ich unter diesem Fußballtor, das heute niemand zum Spielen braucht, weil es viel zu heiß dafür ist, und blinzle in den Himmel.
Es rauscht wie an einem Fluss. Die Pappeln in der Ferne sind das. Wie laut die sind. Irgendein Vogel gurrt. Himmel. Blau. Ein klarer weißer Kondensstreifen. Ein Flugzeug hat den in den Himmel gemalt. Das ist ja auch so ein Sommergeräusch: wenn ein Flugzeug sich nähert und wie aus dem Nichts dieses Brummen kommt, und man erst denkt, da kommt ein Gewitter, und dann ist es aber nur ein Flugzeug. Wie langsam das aussieht. Wo fliegt das hin? Wer sitzt da drin und was quält den? Ich beame meine Gedanken hoch in die Bordkabine und weiß genau, wie das da surrt und rauscht von den Triebwerken und der Lüftung, und wie die dumpfen Geräusche der Schuhe der Stewards auf dem Teppichboden klingen. Ein Quake-Baby ist auch da, und ein schnarchender, dicker Mann. Jetzt gibt es gleich Essen da oben und eine junge Frau freut sich schon auf den Gin Tonic, den sie sich dazu bestellen wird. Und dann wieder Perspektivwechsel: ich hier unten, auf der völlig egalen Suche nach dem Alles und Nichts der Hitze, so bewegungslos direkt auf dem Erdball liegend.
Ich beame mich in Gedanken noch ein paar Mal hoch und runter, hoch, runter, hoch, runter, bis mir schwindelig ist und ich den Kopf abwenden muss vom Himmel und stattdessen ins Gras glotze: Kontrastprogramm zur Weite. Aber auch hier ist keine Übersichtlichkeit zu finden. Wie viel sich da bewegt. Weiße Schmetterlinge fliegen flach über das Gras wie kleine Rettungsflieger, die nach jemandem Ausschau halten. Ich starre zwischen die Halme. Was für ein Dschungel! Die Schmetterlinge finden den nie. Den, den sie suchen. Seit ich vor vielen Jahren „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft“ gesehen habe, kann ich nicht mehr ins Gras sehen, ohne es als riesenhaft zu empfinden. Jeder Grashalm eine Mammut-Palme, jeder Wurm ein dinosaurierhaftes Ungetüm. Und wie es stürmt in diesem Dschungel! Das Gras bewegt sich, die Erde bebt, nichts steht still. Es muss irre laut sein in diesem Dschungel, wenn man die richtigen Ohren dafür hätte, also Ohren im Verhältnis zu diesem Dschungel. Was auch immer das heißt. Wenn man im Nichts angekommen ist, kapiert man schnell, dass es keine Maßstäbe mehr gibt. Das Nichts, das Sommerloch, schluckt nicht nur Zeit und Zwänge, sondern offenbar auch Größenrelationen.
Am Himmel kommt das nächste Flugzeug, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung. Irgendwo gibt es einen Hahn. Auch der kräht faul und behäbig. Alles kribbelt auf meiner Haut. Wenn ich dann gucke, ist da aber gar nichts. Unsichtbare Insekten? Oder nur die Elektrizität der Natur? Ich gucke in die Bäume. Wie viele Grüntöne sind das eigentlich, die sich in meinem Blickfeld befinden? Vier Trilliarden? Unendlich? Gibt’s unendlich auf einer festgelegten Fläche? Wie groß ist eigentlich mein Blickfeld? Kann man das so abstecken, dass es eine zweidimensionale Form ergibt? Eine karamellbraune Biene saugt an einer Kleeblüte herum. Bienen sehen immer so schön satt und warm aus. Oder denkt man das nur, weil man bei Bienen an Honig denkt?
Irgendwann, ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, stehe ich auf und gehe. Einfach geradeaus, ins Feld rein. Weiterlaufen, um dem Nichts noch näher zu kommen, um sicherzugehen, dass es dort vorne nicht aufhört. Die Ähren kratzen an meinen Beinen, immer noch ist sein Look die pure Farce, aber es fühlt sich trotzdem gut an. Einfach, weil ich das Gefühl habe, die Welt zu besitzen und geradewegs durch sie hindurchzuschreiten. Egal, ob da ein Weg für mich ist oder nicht. Wege selber machen, das macht ja sowieso am meisten Spaß. Und im Nichts gibt es ja eh keine Wege. Einfach vorwärts also. Los. Alles egal, ich geh da jetzt lang. Und dann gehe ich irgendwann aus dem Feld wieder raus, über Straßen und um Kurven herum. Bleibe mal im Schatten sitzen, mal auf einem staubigen Parkplatz. Bis meine Klamotten wieder trocken sind.
Mitten im Ort ist ein Edeka. Müde Schüler sitzen auf den Tischen vor der Bäckerei und essen Eis am Stiel. Ich kaufe zwei neue Flaschen Wasser. Schütte, sobald ich wieder auf der sengenden Straße bin, die erste Flasche über mir aus. Das ist wirklich etwas, das man viel zu selten tut: ganze Flaschen Wasser über sich ausgießen. Die andere Flasche trinke ich zur Hälfte. Ich muss ja auch von innen nass sein. Fertig, Flasche hinten in die Hose geklemmt und weiter. Wie einfach alles sein kann. Einfach nur gehen. Und den Grillen zuhören, von denen auf einem Quadratmeter ja ungefähr hundert sein müssen, so laut schnarren die. Was rufen die? Ich weiß fast nichts über die Natur und die Pflanzen und die Insekten, das ist tragisch und noch ein Grund, ein richtiger Landstreicher zu werden.
Ich gehe jetzt so, wie die Tiere sich durch die Welt bewegen, oder wie die Insekten fliegen: immer mal eine Pause auf einer Blume oder an einem Baum, dann wieder weiter. Gedankenloses, organisches Bewegungs-Auf-und-Ab.
Irgendwann gelange ich auf einen Parkplatz vor einem Biergarten. Da steht ein Rolls-Royce-Cabrio und sonst nichts. Ich kaufe ein Spezi in der Flasche und eine große Brezn mit süßem Senf und sitze und esse. Das Mädchen, das mir das Spezi verkauft hat, sitzt jetzt wieder auf einer Bierbank bei ihrem Freund, der schon die dritte Dose Red Bull trinkt und sich immer wieder hektisch durchs schwarze Haar fährt. Hinter mir regt sich ein Italiener ins Telefon auf. Ich trinke aus und esse auf und schlurfe meines Weges. Ich wandere durch eine verfallene Tennisplatzanlage und mache die Augen zu und höre das Plocken der Tennisbälle der vergangenen dreißig Jahre in meinem Kopf. Es ist heiß und trocken und wüstenwindig. Ein alter Mann fährt auf seinem Fahrrad einen Bienenkasten irgendwohin. Eine Frau geht mit einem Collie spazieren. Ein dicker Mann im Unterhemd steht einfach nur auf der Straße und hält sich seinen schwitzenden Bauch. Kinder laufen irgendwohin und trinken dabei Slushies. Und so geht der Tag zu Ende – ohne eine Uhr. Und so, dass alle nur das Nötigste machen. Und das sehr langsam.
Geredet habe ich mit niemandem. Als ich abends in meinem Bett liege, denke ich: Das Nichts hat mir irrsinnig gut gefallen. Ich möchte es gern öfter besuchen. Ich möchte Landstreicher werden in der Prärie. Ich möchte mein Handy nie wieder sehen. Ich möchte immer nur noch querfeldein gehen und ab und zu Wasser auf mich drauf gießen und in mich reinschütten und dann mal gucken, was als nächstes kommt.