Erschienen in golf spielen der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG
Der Golfball, ein rätselhaftes Wesen. Meine Golfbälle sind mir auch nach Jahren so ungeheuer wie am ersten Tag. Warum? Ich besitze gern. Besitz vermittelt mir, genau wie meine monogame Beziehung, die Illusion von Sicherheit, Stabilität und Identität. Ich erfreue mich am Anblick meines Bags, meiner Schläger, meines Handschuhs, meiner Schuhe: alles meins.
Einen Golfball aber kann man nicht besitzen, egal, wieviel man dafür bezahlt. Golfbälle sind beziehungsunfähig. Für sie gilt: Freie Geister soll man nicht aufhalten. Kaum aufgeteet, weiß man nicht, ob man sie jemals wiedersehen wird.
Jeder Golfer weiß, dass der Kummer über einen verlorenen Ball sich anfühlen kann wie Liebeskummer. An schlechten Tagen auf anspruchsvollen Plätzen verliere ich bis zu sechs, sieben Bälle auf einer 18-Loch-Runde. Um das wenigstens finanziell zu verkraften, kaufe ich meine Golfbälle noch immer gebraucht.
Wann hört das auf? Manchmal denke ich, ich werde mich erst dann eine ernsthafte Golferin nennen können, wenn ich meinen Golfball-Verschleiß unter Kontrolle gebracht habe. Während ich diesen Satz schreibe, tönt ein teuflisches Geräusch aus dem Himmel. Kontrolle? Über den Golfball? Gelächter erschüttert den Boden unter meinen Füßen.
Ich habe nachgelesen, wie lang ein Golfball hält. Also, theoretisch. Es war schmerzhaft. Im Schnitt ist ein Golfball dafür ausgelegt, etwa 100 Abschläge bei etwa 200 km/h zu überstehen. Experten sagen, man könne einen Ball so lange spielen, bis er den ersten Riss aufweise. Natürlich gibt es auch abergläubische Haltungen zum Thema. Ernie Els etwa glaubte, in jedem Ball stecke nur ein einziger Birdie, danach müsse man ihn wechseln. So oder so: Ich selbst möchte darüber bestimmen, wann ein Ball aussortiert wird.
Doch wie durchhalten bis dahin? Mann muss die Illusion von Ballbesitz simulieren. Wenn man sein Herz schon nicht an einzelne Bälle hängen kann, dann wenigstens an ihre Spezies. Es ist deshalb gut, bei einer Ballmarke zu bleiben. Golfbälle müssen so austauschbar wie möglich aussehen. Man darf nicht merken, dass es bereits der fünfte auf dieser Runde ist.
Ein hübscher, aber in dieser Hinsicht kontraproduktiver Aspekt gebrauchter Bälle ist leider, dass sie meist alles andere als austauschbar sind. Ein einziger Sack birgt ein Sammelsurium fremder Initialen, bunter Aufdrucke, Firmenlogos und Golfclub-Logos aus aller Welt. Jeder Ball eine Ansichtskarte aus der Fremde, ein poetischer Gruß aus einem anderen Leben. Sie sind Zeuge von Wutanfällen und Liebesschwüren, möglicherweise Betrachter von Schlangen- und Krokodilsmägen, wer weiß das schon? Oft möchte man diese charmant bedruckten Bälle nicht spielen, sondern sammeln.
Doch die einzige Möglichkeit, einen Golfball zu behalten, ist ihn nicht zu spielen. Woran erinnert uns das alles nur die ganze Zeit? An die Gesetze des Lebens. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Anhand des Umgangs einer Person mit ihrem Golfball kann man ihr Psychogramm zeichnen. Man denke an jene armen Kreaturen, die unter Einsatz ihres Lebens selbst Range-Ballen hinterherlaufen. Die sich meterlange Angeln bestellen, um ihre Bälle aus Gewässern zu fischen. Die lieber durchs Unterholz kriechen und von zwanzig Zecken gebissen werden, als einen einzigen Ball seinem Schicksal zu überlassen.
Natürlich bietet es sich an, dieses an Ball-Stalking grenzende Verhalten mit der Sorge um die Umwelt zu rechtfertigen. Nein, es ist nicht schön, wenn verlorene Bälle am Grunde eines Sees enden. Doch man fürchte sich nicht: Büsche, Teiche und Tümpel auf Golfplätzen werden von dort verendeten Bällen gereinigt. Und nicht nur das. Auch Bauernkinder verdienen sich mit der Golfballsuche oft ein Taschengeld dazu. Zum Teil basieren ganze Existenzen darauf, verlorenen Golfbälle zu finden, zu säubern und wiederzuverkaufen. Golfballtaucher ist eigener Beruf. Nicht der unlukrativste. Ein US-amerikanische Unternehmer verdiente nach eigenen Angaben Millionen damit, während einer Phase der Arbeitslosigkeit nach Golfbällen zu tauchen. Und wer weiß, vielleicht werden Golfbälle irgendwann aus Dünger oder Tierfutter bestehen.
Doch zurück zur Verlustangst. Ich habe nur einen einzigen Golfball, den ich bisher nicht verloren habe. Er trägt das Logo der Golfanlage Chelsea Piers in New York City als Aufdruck, ein Andenken. Er ist immer in meinem Bag. Ich spiele ihn nicht. Macht mich sein Besitz glücklich? Nein. Was habe ich von einem Ball, den ich nicht spiele? Was habe ich von meinem Leben, wenn ich es nicht riskiere? Ich sollte den Bällen dankbar sein, dass sie mich an die Vergänglichkeit erinnern. Es ist unumgänglich: Zuerst verlieren wir unseren Golfball. Dann alles andere.