Schreiben im Zug

Jeder Text fühlt sich an, wie der allererste. Egal, wie arbeitswütig ich mich morgens um sieben an den Schreibtisch setze, es kann sein, dass ich um 13 Uhr immer noch kein Anzeichen dafür erkenne, dass der geplante Text jemals existieren wird. Und wenn sich auf dem Blatt nichts bewegt, sich in meinem Zimmer nichts bewegt und die Häuser, die ich vom Schreibplatz aus auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen sehe, sich auch nicht bewegen, muss ich mich bewegen. 

Richtung Bahnhof. Ich löse für 25 Euro ein Bayernticket und steige in irgendeinen Regionalzug, Ziel egal, es geht bei diesem Vorhaben nicht ums Ziel, sondern darum, überhaupt erst einmal loszufahren.

Manchmal steht Lindau am Bodensee auf dem Zug, in den ich steige. Manchmal Prien am Chiemsee, manchmal Mittenwald, Garmisch-Partenkirchen, Passau, Donauwörth, Hof, Regensburg, Nürnberg. Die Möglichkeiten mit dem Bayernticket sind viele. Man kann fast bis nach Frankfurt hinauf fahren, nach Würzburg in die Weinberge, an die tschechische Grenze zu den Vietnamesen-Märkten oder in die Alpen. Es ist eine Irrfahrt durch ein außergewöhnlich schönes und großes Bundesland und es besteht immer die Gefahr, irgendwo auszusteigen und Urlaub zu machen. 

Aber die Kunst ist es, bescheiden zu bleiben. Es geht nicht um das Ziel, es geht um den Weg, es geht ums Fahren, rausgucken, auf Gedanken kommen, schreiben, rausgucken, immer zur richtigen Zeit wieder aussteigen und umsteigen, weiterfahren, weiterschreiben, lesen, umsteigen. Umwege willkommen. 

Es geht um das Gefühl, mittendrin zu sein, obwohl man außen vor ist. Zu fahren, obwohl man sitzt. Das ist nämlich das Unerträgliche am Schreiben: dass man dabei soviel sitzt. Was sich zu oft wie festsitzen anfühlt. Wenn der Sitz fährt, hilft das.

Der Zug rollt langsam aus dem Bahnhof, beschleunigt bald auf dem bis nach München-Pasing schnurgeradeaus verlaufenden Gleisteppich und lässt die Stadt einfach hinter sich, den Bahnhof, das Stadtviertel in dem man lebt, mit dem Schreibzimmer, das sich zuletzt wie eine Schreibzelle angefühlt hat. Tschüss, tschüss, tschüss. Tschüss Bürohäuser an der Stammstrecke. Da sitzen sie unter ihren Büropflanzen tagein, tagaus. Jetzt fährt man ihnen einfach davon. Und hört durch die Kopfhörer dramatisch „Runaway train“ von Soul Asylum: I can do what no one else can do I can see what no one else can see Here I am just drowning in the rain With a ticket for a runaway train.

Nur einmal hält der Zug noch in München-Pasing und fährt dann, falls es zum Beispiel der Zug nach Weilheim ist, bis nach Starnberg durch. An all den Vororten vorbei und den Wegmarken der S-Bahn-Pendler, an der Heide-Volm in Planegg, an der seit Jahren verlassen daliegenden und völlig verwucherten S-Bahnstation Mühltal. Waldarbeiter fällen nasse Bäume, ein Pferd grast, Golfbälle. Bis irgendwann, nach einer sanften Kurve Starnberg kommt und damit der Starnberger See. Plötzlich ist er da, weit, graublau spiegelglatt und so nah an den Gleisen, dass man glaubt, direkt in den See aussteigen zu können. Und das ist doch jetzt mal eine Schreibtischaussicht, auch wenn man bis hierher noch kein einziges Wort geschrieben hat, sondern nur dramatische Lieder übers Abhauen gehört hat. Aber man wird noch schreiben, das steht fest, der Tag ist lang und man hat ja alles neben sich liegen, was man dafür braucht.

Wichtig fürs Schreiben im Zug ist, dass man einen Platz neben sich frei hat, auf dem man den Rucksack ablegen kann. Alles, was darin ist, muss griffbereit sein. Und der Rucksack auf dem Nebensitz hat noch eine andere Funktion: er hält einem die Menschen vom Leib, denn wenn die zu nah an einem dran sind, schreibt es sich nicht gut. Leere Züge sind zu bevorzugen, immer. Aber wer den ganzen Tag im Zug quer durch Bayern fährt, findet viele leere Züge mit ganzen Abteilen, die er für sich allein haben kann. Es gibt Züge mit Steckdosen und ohne Steckdosen, mit Ausklapptischen und ohne, mit mehr und mit weniger Beinfreiheit, aber alles kommt zur rechten Zeit, so muss man das sehen, auch das gehört zu dieser Geistesübung.

Beim Rucksackpacken gilt: Nur das Nötigste, aber dringend Bargeld. Was zu trinken, was zu schreiben, Ladekabel und mindestens zwei Bücher, lieber drei. Wer schreibt muss zwischendurch lesen, am besten Verschiedenes. Beim Umsteigen gilt: Keine Eile. Der nächste Zug ist immer der richtige. Manchmal muss man warten. Aber das ist gut, denn das sind die Pausen, die der Geist braucht und die man sich am Schreibtisch viel zu selten nimmt. Man kann sich dann Güterzugladungen ansehen, hunderte wüstengelbe US-Army-Jeeps zum Beispiel, dazwischen Tanks mit der Aufschrift „POTABILE WATER“. Man kann in Zeitschriftenkioske gehen und lesen. Man kann sich einen Kaffee holen oder einen Glühwein. Man kann sich die Bahnhofsstraßen von Irrenlohe, Rohrbach an der Ilm, Mausheim und Oberkotzau ansehen und sich sehr auf den nächsten Zug nach woanders freuen. Man kann nachts am Bodensee stehen und überlegen, den letzten Zug nach München einfach zu verpassen, für die Nacht irgendwo unterzukommen und am Morgen schwimmen zu gehen.

Ich habe auf meinen Schreib-Irrfahrten durch Bayern einmal in Regensburg übernachtet und am späten Morgen Wurstkipferl an der Donau gefrühstückt. Danach bin ich nach Hof gefahren. Im Zug von Regensburg nach Hof kann man im letzen Waggon nach hinten raus den Schienen hinterhersehen. In Hof habe ich den halben Zeitschriftenladen durchgelesen. Die Bahnhofshalle von Hof ist erstaunlich schön, mit Parkett, Stuck und Deckenmalerei, wie man sich Bahnhöfe in Tucholsky-Büchern vorstellt. Nur den Yorma-Imbiss muss man sich rausdenken. Am gleichen Tag bin ich wieder zurück nach Regensburg, weil der Zug grad kam, und dort dann nochmal raus, weil ich Hunger hatte. Ich habe das Hotel Orphée entdeckt und dort eine Bouillabaisse gegessen. Ein anderes Mal war ich mittags in Mittenwald spazieren und habe nachmittags in Passau auf einer Brücke gestanden. Ich wurde mit einer „Niki“ verwechselt und von einem Verrückten angebrüllt.

Jetzt gerade bin ich auch im Zug. Ich schreibe diesen Text und ich überarbeite meinen zweiten Roman, der im Frühjahr erscheint. In meiner linken Jackentasche das Bayernticket, in meinem Rucksack drei Bücher, meine Ladekabel, eine Flasche Wasser, ein Kugelschreiber, Kopfhörer und das lektorierte Manuskript meines Buchs. Der Laptop auf meinem Schoß.

Herbstblätter klatschen gegen die Fenster, ein Mann in orangefarbener Jacke steht an den Gleisen, ich weiß nicht, wie er heißt, ich werde ihn nie wieder sehen. Sumpfgebiete, Achim Reichel singt die Regenballade in meinen Kopfhörern und da draußen ist das perfekte Musikvideo dazu, es dämmert, alles ist blau und nass und moosbewachsen, ich überquere Flüsse, ich fliege durch die Landschaft, die Klimaanlage bläst warme Luft in mein Abteil, und ich gucke, lese, schreibe. Es ist nicht viel und es ist mühsam, aber ich habe das ganze Abteil für mich und ich bin auf dem Weg. Und das ist die Hauptsache.