Erschienen bei ZEIT ONLINE
11.23 Uhr
Ich wache auf, setze mich in meinem Bett auf und öffne das Fenster. Hänge meinen Oberkörper raus. Zarte, fast unsichtbare Schneeflocken fallen auf meinen Nacken und schmelzen dort. Grauer Himmel, nasse Straße. Die Menschen sehen allesamt aus, als wollten sie wieder zurück ins Bett. Zum Glück bin ich da schon. Auch die Autos klingen angestrengt und müde. Bei Sonne ist alles anders. Da hat selbst der Edeka-Laster einen abenteuerlustigen Sound.
Auf meinem Computer wartet das letzte Kapitel meines Romans auf Überarbeitung. Das ist die Aufgabe für heute. Wie überschaubar das klingt.
Unten hält jetzt der DHL-Paketwagen. Vor ein paar Wochen habe ich etwas Merkwürdiges beobachtet. Ein schwarzes Mercedes-Coupé fährt direkt vor den DHL-Wagen, bremst mit quietschenden Reifen und heraus stürmt ein sonnenbebrillter Typ. Beginnt, mit der Faust gegen den Paketwagen zu hämmern. Der Paketbote aber ist nicht da. Also öffnet der Sonnenbrillenmann die nicht abgeschlossene Paketwagentür und verschwindet im Laderaum. Bleibt minutenlang drin. Kommt wieder raus, aber anscheinend ohne etwas mitgenommen zu haben. Steigt in seinen Mercedes und fährt wieder weg.
Kurz danach kommt der Paketmann zurück und hat von all dem nichts mitbekommen. Ich stand einfach nur oben am Fenster und habe zugeschaut wie so eine alte Frau. Und werde nie erfahren, was es mit der Sache auf sich hatte.
Ich könnte jetzt aufstehen, Kaffee machen und zu schreiben anfangen. Oder noch warten und wach werden. Wachsein ist die Grundlage fürs Schreiben. Wie gerne würde ich im Schlaf schreiben können.
11.29 Uhr
Später Griff zum Handy. Brauche gar keine Neujahrsvorsätze, habe mir schon im alten Jahr abtrainiert, morgens als Erstes das Handy in die Hand zu nehmen. Sind auch kein Instagram und kein Twitter und keine Mailprogramme mehr drauf. Nur noch Whats App und das Onlinebanking als letzte potenzielle Dopaminquellen. Schreibe Johanna, sie möge mir bitte den neuesten Gossip aus ihrem Leben berichten. Dann checke ich den Kontostand. Hoffe immer, dass eine unerwartete Überweisung gekommen ist, von irgendeiner in Vergessenheit geratenen Auftragsarbeit. Wie eine Jeans, in der man 20 Euro findet. Meistens ist das Gegenteil der Fall: Irgendeine in Vergessenheit geratene Rechnungssumme wird abgebucht.
11.45 Uhr
Mache mein Bett und ziehe Socken an. Das Ritual des Bettmachens ist nicht zu unterschätzen. Es bedeutet: Jetzt wird es seriös. Die Nacht ist vorüber, der Tag hat begonnen und damit die Arbeit. Gehe in die Küche und mache mir einen Kaffee.
12.00 Uhr
Setze mich an den kleinen Tisch gegenüber von meinem Bett, betrachte das gemachte Bett, nehme einen Schluck Kaffee und finde, ich habe mein Leben im Griff. Am Laptop Mails lesen, beantworten, Mailprogramm schließen. Letztes Kapitel öffnen. Je näher die Maus dem Dokument kommt, desto blümeranter wird das Gefühl in meinen Fingerknöcheln. Doppelklick, geöffnet. Mit lautem Herzschlag scrolle ich es einmal hoch und runter. Schließe es wieder.
Augenreiben, stöhnen, seufzen, Kopf in die Hände fallen lassen, vorläufige Kapitulation, Tischplatte anstarren.
Wenn man lange genug kapitulierend auf die Tischstarre starrt, passiert etwas Großes. Nach der Verzweiflung breitet sich plötzlich eine endlose, friedliche Stille in einem aus, in der man sich völlig sorglos bewegen kann. In dieser Stille müsste man mit einem Teil des Gehirns verweilen können, während ein anderer Teil endlich die Arbeit für einen erledigte.
12.45 Uhr
Es klingelt an der Tür. Hoffentlich kriege ich ein riesiges Überraschungspaket, mit dem ich mich den restlichen Tag beschäftigen kann.
Es ist mein Freund von nebenan. Er will sofort mit mir nach Italien losfahren.
Ich sage: Morgen, wenn das letzte Kapitel fertig geschrieben ist.
Wir reden über Kryptowährungen und wie schön es wäre, reich zu sein. Dass uns keinen einzigen Tag langweilig wäre. Er zitiert einen Satz aus einem Buch über Bitcoins: „Saying bitcoin is digital money is like saying the internet is a fancy telephone„.
Dann verabschieden wir uns. Die Tür fällt zu. Zeit für eine Pause auf dem gemachten Bett.
Oben auf dem Bücherstapel neben meinem Bett liegt Haushaltsschnecken leben länger von Christine Nöstlinger. Habe das Buch gestern in einem Antiquariat am Rindermarkt gekauft.
Lese die erste Seite. Der erste Satz ist gleich super, ich weiß gar nicht, warum der nicht bekannter ist: „Manchmal, in den ganz stillen Stunden, wenn man der Besinnlichkeit anheimgefallen ist und dabei auch ein wenig an die eigene Person denken muss, dann fällt einem ein, wie man sich seinerzeit, vor vielen, vielen Jahren, in Jugendtagen, sein späteres Leben vorgestellt hat und wie sehr man sich dabei verkalkuliert hat.“
Lese auch noch die zweite und dritte und vierte und fünfte Seite und immer weiter. Bis zum Schluss. Das Buch ist von Anfang bis Ende toll, es gibt sogar ein Gespräch mit einem Kuchen.
15.21 Uhr
Eigentlich sollte ich mal vor die Tür gehen. Allerdings könnte es dann sein, dass ich nicht mehr zurückkehre. Neulich wollte ich nur fünf Minuten Pause machen vom Schreiben und war dann fünf Stunden bei fünf Grad ohne Geld und Handy spazieren. Zwischendurch habe ich Wasser aus dem Brunnen getrunken gegen den Durst. Als ich nach Hause kam, war ich so erschöpft vom Gehen, dass ich schlafen musste.
15.22 Uhr
Ich mache mir einen Tee, vielleicht den besten Earl Grey in meiner bisherigen Earl-Grey-Biografie: Countess Grey von Fortnum & Mason. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, den Laptop ins Bett zu holen. Zünde eine Kerze an und öffne wagemutig mein letztes Kapitel. Schreibe eine halbe Stunde daran herum. Hauptsächlich lösche oder kürze ich Sätze. In die entstandenen Lücken schreibe ich in Kursivschrift schlaue Anweisungen, was dort passieren muss.
Wenn ich das später umsetze, bin ich in Nullkommanix fertig.
16.02 Uhr
Gehe euphorisch duschen. Kriege mich kaum ein vor Triumphgefühlen. Lache sogar einmal kurz laut auf unter Dusche, dabei lache ich nie, wenn ich allein bin. Egal wie lustig ich etwas finde. Schäume meinen Kopf enthusiastisch mit meinem neuen Shampoo ein. Beinahe hätte ich gestern ein Aesop-Shampoo gekauft. Mein Freund stand mit mir im Laden. Er sah sich in den Regalen um und sagte schließlich: „Also von einer Marke, die ein Produkt namens Post Poo Drops im Sortiment hat, sollte man prinzipiell nichts kaufen.“
Ich fand, er hatte recht. Sind dann wieder raus, ohne etwas zu kaufen. Schließlich habe ich ein Shampoo von L’Occitane gekauft. Es riecht sehr gut.
Creme nach der Dusche ausgiebig und sehr lange mein Gesicht ein. Zum Körpereincremen bin ich immer zu faul. Jede Bodylotion wird bei mir ranzig. Einmal hat eine sehr elegante ältere Frau mich ermahnt: „Creme dich bloß immer gut am ganzen Körper ein, dann bleibt deine Haut viel länger jung.“ Bestimmt sage ich eines Tages zu meinen Kindern: „Cremt euch immer gut ein, ich bereue heute noch, dass ich immer zu faul dazu war.“
16.18 Uhr
Setze mich im Bademantel zurück ans letzte Kapitel. Versuche, meine kursiven Anweisungen umzusetzen. Funktioniert überhaupt nicht.
Falle sehr tief. Wie konnte ich vorhin nur so euphorisch sein? Es gibt nichts Demütigenderes, als zu verlieren, wenn man sich schon als Sieger wähnte. So muss Stoiber sich gefühlt haben, nachdem er bei der Bundestagswahl 2002 sagte, dass er die Wahl gewonnen habe.
Hunger.
Es ist noch ein Ei im Kühlschrank. Koche es 30 Minuten lang bei 60 Grad. Das wollte ich schon lange machen. Es soll dabei ganz zart und weich werden, fast glasig. Die 60 Grad muss ich allerdings schätzen. Deshalb wird es nicht ganz so seidig, wie ich es mir vorgestellt habe.
Esse es mit Kapern auf Toast.
Klicke dabei Twitter an. Twitter macht mich wie Instagram immer völlig fertig, wenn ich es länger als drei Minuten anschaue. All die Menschen! All die Informationen, Bilder, Leben, Texte, Gedanken, Links. Das zwanghafte Mirvorstellenmüssen, wie die Leute vor den Eingabefeldern sitzen und da was reinschreiben und warum. Und was sie nicht reinschreiben. Und dann ich, hier, in meinem Bett, was macht das alles mit mir und meinem Leben, und schon hat der mächtige Internetozean mich erfasst und weggespült und ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Raus da, schnell, weg da, Luft holen, auf die Rettungsinsel Google springen. Da ist sie, die treue Eingabemaske. Endlich Ruhe, endlich keine Menschen mit aufdringlichen Meinungen mehr.
17.21 Uhr
Google nach Eiern. Sehe auf Netflix die Eierfolge von Mind of a Chef mit David Chang. Ein Koch namens Daniel Patterson bereitet darin ein pochiertes Rührei zu. Suche auf meinem Computer das Dokument „Was gekocht werden muss“ und schreibe Rührei pochieren rein. Finde allerdings drei Dokumente, die „Was gekocht werden muss“ heißen: „Was gekocht werden muss alt“, „Was gekocht werden muss 1“, „Was gekocht werden muss neu“.
Kopiere alle Dokumentinhalte in eins.
Lösche alles, was sich doppelt („Aglio olio v Italo Bassi“) oder was ich nicht mehr verstehe („Brobrösel? panieren braten o m. pist?“).
Die letzten drei Einträge im aufgeräumten Dokument lauten jetzt:
– chinesische Kartoffeln Szechuan wie hier https://www.chinasichuanfood.com/spicy-and-sour-potato/- in milch geschmorter Porree und spaghetti wie bei eataly in Turin
– verbrannte aubergine mit birne
17.53 Uhr
Draußen ist es schon dunkel. Öffne den Kalender auf meinem Computer. Schreibe für Ende Januar rein: „Computer aufräumen!“
Jetzt wäre es sicherlich gut, etwas Yoga zu machen. Fange ein „Yoga with Adriene„-Video an. Sechs Minuten halte ich durch. Danach bleibe ich liegen. Wenn man keine Lust hat, Turnübungen zu machen, aber schon auf dem Boden liegt, empfiehlt sich eine Kerze. Kerze kann jeder.
Irgendwann kippt meine Kerze nach hinten um und meine Füße landen hinter meinem Kopf. Meine Nase ist jetzt an meinem Bauchnabel. Meine Zehen berühren hinter meinem Kopf den Boden. Wenn man sehr lange so liegt, wird alles seltsam. Wie wenn man zu oft ein und dasselbe Wort hintereinander aufsagt. Ich weiß nicht, wie lange ich so daliege. Irgendwann glaube ich, so zu gehören. Wie eine merkwürdige Pflanze.
In meinem Gehirn breitet sich wieder diese angenehme Stille aus.
Wieso kann ich sie nicht behalten?
Als mein rechtes Bein einschläft, ist sie weg. Stehe auf. Hüpfe in meinem Zimmer herum. Rutsche beinahe auf dem Teppich aus. So möchte ich niemals sterben
18.34 Uhr
Stehe vor meinem Bücherregal. Ganz nah. Nah am Bücherregal zu stehen hat etwas Beruhigendes. Betrachte meine Bücher. Wieso habe ich eigentlich vor ein paar Jahren diese dicke, schwarze Beethoven-Biografie gekauft? Ich weiß noch, dass sie im selben Paket ankam wie das große Mumins-Buch. Das war so ein Nachts-im-abgedunkelten-Zimmer-schnell-für-200-Euro-Bücher-bestellen-Anfall.
Meine Nase zeigt direkt auf Ingeborg Bachmanns Das dreißigste Jahr. Nie gelesen. 2018 werde ich 30. Ist das ein Zeichen? Vielleicht sollte ich es mal lesen. Ziehe es raus. Der Name meiner Oma steht vorne drin. Hat sie mir das geschenkt oder habe ich mir das einfach von ihr mitgenommen? Alles vergessen.
Dann fällt mir ein Zettel entgegen. Sie hat etwas darauf notiert.
„Undine, im Wasser hausender weibl. Elementargeist. Die U. hat menschl. Gestalt, aber nicht die unsterbl. Seele, sie wird ihr erst durch Vermählung mit einem irdischen Mann zuteil. Märchennovelle Undine von Fouqué.“
Und auf der Rückseite: „27. September: Kassandra, Drachenblut, Herr der Fliegen.“
Um das zu kapieren, muss man das Buch gelesen haben und auch sonst meine Oma sein.
Versuche sie anzurufen. Will wissen, ob sie sich an den Zettel erinnert. Was es damit auf sich hat. Erreiche sie nicht. Schreibe ihr auf WhatsApp. Ihr Profilbild ist eine Sonnenblume aus ihrem Garten. Sie ist nicht online.
Blättere das Buch durch. Stoße auch noch auf unterstrichene Sätze.
„Lern du Schattensprache! Lern du selber.“
Ganz hinten auf der letzten Seite hat meine Oma in Schreibschrift mit Bleistift geschrieben: „Immer sind es die Frauen in ihren Texten, die an der Liebe zugrunde gehen.“
Sie ist immer noch nicht online bei WhatsApp.
Von Johanna auch keine Nachricht.
19.03 Uhr
Gehe ans Fenster. Gegenüber stehen zwei fette Katzen im Fenster. Ich winke, sie gucken gelangweilt weg. Ich öffne das Fenster und gucke den Autolichtern zu.
Ich denke wieder an die unterstrichenen Sätze. Ich mag es, in Büchern unterstrichene Sätze zu finden.
19.08 Uhr
Öffne das Ideen-Dokument auf meinem Computer. Schreibe rein: „Leute finden, die mir ihre unterstrichenen Sätze zeigen und erklären.“
Checke mein Handy. Keine Antwort von Johanna.
Von Oma auch nichts.
WhatsApp ist irgendwie out.
Durchscrolle das Ideen-Dokument. „Lippenstiftfarben-Namen: Warm Leatherette, Toast and Butter, Galaxy Grey, Smoked Almonds, Fire Roasted, Brick Dust, Kinda Sexy, Driftwood.“
Manchmal gehe ich ins Kaufhaus, nur um die Namen von Kosmetikprodukten zu lesen. Super sind auch Duftbeschreibungen auf der Verpackung von Parfums. Manchmal beschreiben sie nur den Wind auf einer Terrasse am Meer.
19.12 Uhr
Ich öffne wieder mein Letztes-Kapitel-Dokument. Es schaut mich an. Ich schaue zurück.
Wer kann länger? Das Dokument. Ich schaue zuerst weg.
Und drücke „schließen“.
Ich google: „Vogue Beauty Routine“. Schönen Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich in ihren hellen New-York-City-Apartments schminken, beruhigt mich wie sonst nur das Meer. Gucke etwa 45 Minuten lang Beautyvideos. Danach gehe ich ins Bad und probiere alle meine Lippenstifte aus und alle meine Lidschatten, bis ich aussehe wie eine Dragqueen.
Gehe noch mal zum Bücherregal. Und lese aus allen Büchern, die ich rausziehe, die letzte Seite. Und den letzten Satz. Zur Inspiration.
Das vom Beethoven-Buch lautet: „Dann schaut er auf seine Uhr: Es ist Viertel vor sechs.“
Auf meiner ist es 20.48 Uhr.
Habe Hunger. Klingele bei meinem Freund. Er fragt, wieso ich aussehe wie eine Dragqueen. Beautyvideos, sage ich.
Kochen Nudeln mit Tomatensauce.
Gehe mit einer Tasse Espresso in der Hand in meine Wohnung zurück.
21.45 Uhr
Lese noch ungefähr 48 letzte Sätze.
22.39 Uhr
Öffne das Dokument. Schreibe das Kapitel zu Ende.
1.49 Uhr
Gehe Zähneputzen. Frage mich, ob es richtig gute Zahnpflege-Youtuber gibt. Bin zu müde, um nachzuschauen. Hoffentlich vergesse ich es nicht.
1.55 Uhr
Auf WhatsApp nichts passiert. Im Onlinebanking nichts passiert. Schalte den Flugmodus ein.
Schlafe ein.