Erschienen im BLOCK MAGAZIN
Meine Bücher stehen in meinem Bücherregal und tun, was Bücher immer tun: Mit ihren stummen, reglosen Buchrücken dastehen, als wär nichts. Aber in Wahrheit sind sie Lebewesen, in deren Bäuchen es surrt, atmet und pocht und irgendein Wetter und irgendeine Epoche angesagt ist. Ununterbrochen leiden, lieben, sterben darin Figuren. In Endlosschleife. Dass in Büchern Geschichten leben, auch wenn sie grad keiner liest, ist so verstörend, wie daran zu denken, dass im eigenen Körper andauernd das Herz schlägt und man es doch nie zu Gesicht bekommt.
In meinem Bücherregal stehen neben sehr vielen Romanen auch zwei Wörterbücher. Wörterbücher sind so etwas wie die Chemiekästen der Sprache. Oder ihre Baumärkte. Wenn man einmal reingeht, kommt man so schnell nicht wieder raus. Es gibt so vieles, was man von dort mitnehmen will, um sich irgendwann etwas Schönes draus zu bauen. Ich jedenfalls will das. Wenn die anderen Bücher im Regal Spielfilme sind, Paralleluniversen, sind die Wörterbücher Museen, Stätten der Bildung, Archive, in denen man ungestört wandeln kann.
Eines meiner Wörterbücher ist ein etymologisches, das andere der Dornseiff. Den Dornseiff lege ich mir beim Schreiben oft neben den Laptop, um Wörter daraus zu benutzen. Von seiner Existenz weiß ich erst, seit ich letztes Jahr das Erika-Fuchs-Museum besuchte und er dort in einer Glasvitrine als das Wörterbuch ausgestellt war, das sie zum Übersetzen der Mickey-Maus-Hefte tagtäglich zurate gezogen hat. Musste ich auch haben.
Der korrekte Titel des Dornseiffs lautet: „Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen“. Der enthaltene Wortschatz ist also nicht alphabetisch geordnet. Eigentlich ist der Dornseiff eher so etwas wie ein Synonymwörterbuch, aber eben auch nicht ganz. Hinten drauf steht jedenfalls: „Das seit rund siebzig Jahren bewährte Standardwerk stellt den Reichtum der deutschen Sprache – sowohl Wörter wie Redensarten – von der feierlich gehobenen Sprache über die manchmal durchaus derbe Umgangssprache, nach Begriffen in 50 Sachgruppen sortiert vor.“
Wenn man es ungefähr in der Mitte aufschlägt, sagen wir auf Seite 250, gerät man direkt auf die Übersichtseite von Kapitel 9, mit dem Titel: „Wollen und Handeln“.
Punkt 9.1 lautet „Trieb“. Es folgen einige Nachschlage-Alternativen zur Wortbedeutung von „Trieb“: „siehe Richtung 8.11, Laune 9.10, Absicht 9.14, Erfordernis 9.81, Wunsch 11.36.“, und dann folgt die Liste der Ausdrücke, die in ihrer Bedeutung ebenfalls mit dem Sinn des Wortes Trieb verwandt sind. Zum Beispiel: „drängen, hingravitieren, (hin)neigen, trachten, zielen, besessen, dumpf, elementar, traumhaft, triebmäßig, unterbewusst, Hang, Liebhaberei, Manie, Neigung, Wallung, gesundes Volksempfinden.“ Das geht etwa eine halbe Seite lang, dann kommt Punkt 9.2, „Wille“.
Was hat Trieb jetzt mit gesundem Volksempfinden zu tun? Ist das noch ein Synonym? Oder schon eine Bewertung, eine ironische Metapher? Oder generell nur zu verstehen, wenn man 1959 gelebt hat? Über all sowas kann man philosophieren, wenn man im Dornseiff liest. Geschrieben wurde er von einem Altphilologen namens Franz Dornseiff. Die Version, die in meinem Regal steht, entspricht der letzten von ihm redigierten Fassung von 1959.
Das erste Kapitel im Dornseiff ist die Obersachgruppe „Anorganische Welt. Stoffe“. Ihr untergeordnet sind die Sachgruppen 1.1 „Weltall“, 1.2 „Gestirne“, und so weiter. 1.5 heißt „Klares Wetter“ und 1.9. „Sonstige Niederschläge“. Unter „Sonstige Niederschläge“ sind zum Beispiel folgende Worte zu finden: „tauen, betauen, reifen, bereifen, graupeln, hageln, es kitzbohnelet.“
Was soll man sich unter „ es kitzbohnelet“ vorstellen? Googelt man kitzbohnelet, findet man nur einen einzigen Treffer. Er führt zu Google Books und zeigt einem die Seite des Dornseiff an, auf der es steht. Ein vergessenes Wort, ein Fossil, es hat noch niemand ins Internet geschrieben. Auch eine gute Idee für ein Blog: „Dinge, die noch nicht im Internet stehen, aber jetzt“.
Oder man googelt alternativ Kitzbohnen. Dann stößt man auf das digitale Wörterbuch der Gebrüder Grimm in dem es heißt, Kitzbohnen sei ein schwäbisches Wort für Ziegendreck. Man kann sich das entsprechende Wetter also gut vorstellen.
Es gibt im Dornseiff außerdem noch die Ober-Sachgruppen: 2. „Pflanze. Tier. Mensch (Körperliches).“, 3. „Raum. Lage. Form“, 4. „Größe, Menge, Zahl, Grad“, 5. „Wesen. Beziehung, Geschehnis“, 6. „Zeit“, 7. Sichtbarkeit, Licht. Farbe. Schall. Temperatur. Gewicht. Aggregatszustände. Geruch. Geschmack“ 8. Ortsveränderung, 10. Sinnesempfindungen, 11. Fühlen, Affekte, Charaktereigenschaften 12. Das Denken, und so geht es weiter bis 20. Religion. Das Übersinnliche.
Die Redaktionen, für die ich Texte schreibe, nehme mir meine Dornseiff-Worte nie ab. Einmal habe ich versucht, in einem Text den Satz „Ich habe bei der Erfindung des Schießpulvers nicht im Nebenzimmer gesessen“ unterzubringen. Hat nicht funktioniert. Mit mir und dem Dornseiff ist es wie mit einem wunderschönen, exzentrischen, sehr aus der Zeit gefallenen Kleid, das man jeden Tag anziehen möchte, aber nie eine passende Gelegenheit dazu findet. Man denkt sich, mir doch egal, ziehe ich es eben trotzdem an, müssen ja die Leute mit klarkommen, nicht ich. Aber sie glauben es einem nicht und so richtig glauben kann man sich den Auftritt dann selbst eben auch nicht mehr. Vielleicht muss man erst noch älter werden? Oder die Zeit des Kleides ist einfach ein für alle Mal vorbei?
Ich weiß jedenfalls nicht, was ich tun soll mit den schönen Ausdrücken aus dem Dornseiff, außer sie ab und an betrachten wie eine Schmetterlingssammlung. Schön, aber nutzlos.
Allein die Rubrik Tiere! Ich möchte so gern mal einen Text schreiben, in dem eine spätfliegende Fledermaus vorkommt. Ich möchte einmal jemanden als Leierschwanz beschimpfen. Über jemanden als Luderkrähe sprechen, als Brummhahn oder Porzellanhühnchen. Wie hässlich muss eine Drossel sein, die jemand Quabbelarsch nennt? Und schnappt der Hausrotschwanz, genannt Bienenschnapp wirklich nach Bienen? Hat das Spiegelvögelchen einen Spiegel? Ich möchte auch den Blumenküsser kennenlernen, eine Art von Kolibri. Zu lesen, was es für Tiere gibt, macht einen schwermütig. Was man alles nicht weiß! Was man alles übersieht! Wo guckt man eigentlich den ganzen Tag hin? Wann und wo begegnen einem Federgeistchen, Glasflügler, Ohrenpetzer? Welcher Käfer ist der Totengräber, welcher die Totenuhr? Wer ist das sogenannte Weichtier namens Tapetenflunder, und wie sieht die Geburtshelferkröte aus?
Ist die Gesellschaftskrähe die perlenbehangene Lebedame unter den Rabenvögeln, das mentale Gegenteil der Nebelkrähe? Und wie kommt es, dass die Leute Rabenvögel dermaßen bedrohlich finden, dass sie ihnen Name geben wie Schwarzer Geist mit feurigen Augen oder Gott vom Dorf Wangen?
Und während ich gerade noch weiß was ein Altweibersommer ist, weiß ich schon nicht mehr, was ein fliegender Sommer, ist, ein Flugsommer, ein Frauensommer, und was ein Herbstfaden.
Wenn ich in der Küche bin und das Messer stumpf ist, möchte ich laut ausrufen: Auf dem Messer kann man reiten! Und wenn mir abends in Gesellschaft ein Knopf am Hemd aufgeht, möchte ich, dass meine Begleitung mir Madame, es blitzt ins Ohr zischt.
Wenn etwas nicht formschön ist, möchte ich es ungestalt nennen, und wenn ich Unglück habe, möchte ich sagen, dass ich unter einem Unstern geboren bin, mich auf abschüssigem Wege befinde, in der Schokolade sitze, Tantalosqualen ausstehe, den Krebsgang gehe und dass mein Glückstern untergeht.
Soll etwas sofort geschehen werde ich frischweg kurze Fünfzehn machen, nicht viel Federlesen.
Und wenn ich von der fernen Vergangenheit spreche, muss das damals gewesen, als der Großvater die Großmutter nahm, in unvordenklicher Zeit, ach, es ist schon gar nicht mehr wahr.
Ich weiß auch ganz genau, wie es aussieht, wenn jemand zu spät kommt und nachzottelt. Ich kenne zweifelsüchtige Menschen, ich fürchte, ich bin selbst einer. Und trotzdem immer große Rosinen im Sack.
Es gibt Leute, die labern so viel, die schwatzen eine Nuß vom Baume, schleimen sich regelrecht aus, müssen sich verbreiten, leben geistig völlig über ihre Verhältnisse. Ich rede auch viel, aber einen fürchterlichen Sprechmatismus würde ich es wohl noch nicht nennen. Ich kenne allerdings eine Frau, die haben sie mit der Grammophonnadel geimpft, verheiratet ist sie mit einem ähnlich verhirnlichten Faselhans, ein langstieliger Fadian. Und ihre Cousine, selbst die Fadesse in Person, aber eine Lästerbank ohne Gleichen.
Solchen wir diesen, die sich für mehr halten als sie sind, sage ich Du machst mir zuviel Wind für dein kurzes Hemd, und ist es ein Kerl, lästere ich über ihn als Pascha mit sieben Roßschweifen. Mein Gott, was für ein Strizzi!
In meinem Kleiderschrank möchte ich einen Vatermörder und ein Nachmittagskleid haben. Wer reich ist, über den sage ich, dass er der Armenverwaltung nicht zur Last fällt. Er hat das Heu herein!
Ich selbst hingegen habe natürlich seit jeher Mangel am Überfluss, ich nähe am Hungertuch, wir decken uns mit dem nacktem Arsch zu.
Aber ich kenne auch Leute vom Stamme Nimm. Noch schlimmer sind nur die vom Stamme Asra, die gern erben wenn sie lieben. Krawattenmacher! Sterben sich nicht an Herzbrechen.
Verrückten sage ich: Sie sind wohl aus dem X entsprungen oder Bei Ihnen merkt man aber auch, dass der Frost früher eingetreten ist.
Über Dumme schimpfe ich: Sowas lebt und Schiller musste sterben, Wenn du so lang wärst wie dumm, könntest du aus dem Kamin spucken. . So dumm möchte ich auch mal sein aber nur fünf Minuten lang.
Magersüchtige nenne ich, wenn ich böse bin, Unterernährungsbeauftragte.
Aber keine Sorge, mein weiter Geist denkt in Kontinenten, in Jahrtausenden. Eine breite Natur will ich sein, niemals soll mir der Kalk aus den Hosen rieseln, das tut er nämlich bei Berufsmenschen, bei Herrn Schnick und Frau Schnack, Herrn Bramsig und Frau Knöterich, man kennt sie ja, diese Kirchturmgeister. Man wird das Gefühl nicht los, sie seien direkt aus der Mottenkiste vorgeholt.
Aber was salbadere ich so lang? Der Schmelz der Jugend geht dahin! Bald bin ich im Silberhaar!
Jetzt bin ich müde. Der Tag ist vergangen und ich bin auf Seite 320, 11. Affekte, 11.32 Trübsinn, 11.33 Klage, 11.34 Tröstung und, weil kein Text ohne enden darf: 35. Hoffnung.
Wir werden den Zaun schon pinseln!