Mein Bücherregal

Erschienen bei ZEIT ONLINE

Man wird ja heute nirgends mehr nach Hobbys gefragt. Dabei würde ich gerne mal „mein Bücherregal“ antworten. So ein Bücherregal ist ein hervorragendes Indoor-Spiel für eine Person. Es hilft gegen Langweile, Nervosität und Melancholie. Andere widmen sich der Gartenarbeit, ich betreibe mit der gleichen Begeisterung Bücherregalarbeit. Zupfe literarisches Unkraut, pflanze neue Bücher, topfe andere um, entdecke alte Autoren neu. Und wenn ich fertig bin, mache ich mir ein kühles Bier auf und genieße erschöpft und glücklich den aufgeräumten Anblick.

Dabei bin ich der Auffassung, dass es gar keine ideale Ordnung im Bücherregal gibt. Und dass es auch gar keine braucht. Denn egal für welche Ordnung man sich entscheidet, allerspätestens nach einem Jahr ist sie sowieso wieder dahin. Ewig gleich ordentliche Bücherregale gibt es nur bei Menschen, die ihr Bücherregal entweder nie anrühren oder auch Socken bügeln und Unterhosen rollen.

Das Gute an einem unsortierten Bücherregal ist nicht nur, dass man es immer wieder neu sortieren kann, sondern dass es auch wie ein Serendipity-Generator funktioniert: Beim verzweifelten Suchen nach einem bestimmten Buch stößt man regelmäßig auf ein anderes, längst vergessenes, das man dann viel dringender lesen möchte als das gesuchte. Man kann dieses wiederentdeckte Buch dann auf den Nachttischstapel legen, bis dort maximal fünf solcher To-read-soon-Bücher liegen, die man sich in neujahrshafter Vorfreude eins nach dem anderen durchzulesen vornimmt. Fünf Bücher sind übrigens die ideale Anzahl für einen solchen To-read-Stapel auf dem Nachttisch: Nicht zu niedrig, nicht zu hoch. Wackelsicher. Natürlich schafft man es nie, den Stapel brav abzulesen. Spätestens nach vier Wochen ist man so gelangweilt von dem Anblick des einen sowieso nur ans eigene Scheitern erinnernden Lesestapels, dass ein neuer hermuss. Nichts leichter als das.

Ich habe schon viele Ordnungsprinzipien durch: Alphabetisch, nach offiziellen Genres, nach Erscheinungsdatum. Nach eigenen Kategorien: gelesen, ungelesen, halbgelesen. Nach Anschaffungsdatum. Nach Lebensphasen, da haben sich die Eltern getrennt, da zu Hause rausgeflogen, da der erste Liebeskummer, da Australien, da Amerika. Von maximal anstrengend bis maximal unanstrengend. Oder: Lieblingsbücher oben und der Rest unten. Oder: Autorinnen und Autoren. Oder: nach Größe sortiert. Oder nach Farbe.

Die drei letzteren Ordnungsprinzipien haben mir überhaupt nicht gefallen. Menschen, die Bücher nach Größe oder Farben sortieren, traue ich nicht recht über den Weg, obwohl ich diese Haltung sofort schon wieder sehr unsympathisch von mir finde. Soll doch jeder seine Bücher sortieren, wie er will, was hab ich darüber zu urteilen? Und doch: Nach Farben sortierte Bücher kommen mir respektlos vor und dumm. Es scheinen mir die Bücher einer Person zu sein, die zu viel Zeit auf Instagram oder Pinterest verbringt. Überkuratiert. Was an sich ja nicht schlimm wäre, wenn es nicht auch noch so wirken würde, als sei diese Person weniger interessiert am Inhalt als an der Optik der Bücher. Bei der Geschlechtersortierung meiner Bücher ging es mir ganz ähnlich: Es fühlte sich falsch an, kontraproduktiv, diskriminierend, irgendwie anstalthaft. Links die Frauen, rechts die Männer, was soll das außerhalb der Sauna oder der Unterwäscheabteilung? In meinem Bücherregal ist vieles entscheidend, aber sicher nicht das Geschlecht meiner geliebten Erzählerinnen

Meine Bücher stehen meist streng aufrecht, Buchrücken an Buchrücken, wie in der Bücherei und werden in ihrer Ordnung nur manchmal unterbrochen von liegenden Stapeln. Gab es aber auch schon andersherum. Mal stopfe ich die Bücher kreuz und quer oder so eng in die Regale, dass zwischen ihnen kein Millimeter Luft übrig bleibt. Dadurch werden ganze Regelbretter frei, in die ich Objekte reinstelle, die dort eine Weile lang Urlaub machen dürfen. Vasen, Figuren, Karten. Ein Stein, ein Stück Holz, ein Radio, die Muji-Aromalampe, Zeitungsartikel, die ich wieder nicht geschafft habe, zu lesen, aber noch lesen will.

Oft sind es gar nicht Nachlässigkeit und Zeit allein, die die schöne neue Ordnung meines Regals wieder durcheinanderbringen. Einige Bücher rufen mir zu, dass sie woanders stehen möchten. Max Goldt möchte neben Dantes Inferno, das Lexikon der Pilze weicht gern, es ist ihm egal, wo es steht, also kommt es zu Céline. Irmgard Keun stelle ich zu Kurt Tucholsky, damit sie mal wieder zusammen einen trinken gehen können, Dorothy Parker setze ich dazu und Fritz Raddatz zum Protokollieren daneben. Manchmal wache ich morgens auf und möchte, dass Protagonistinnen verschiedener Epochen sich kennenlernen. Manchmal erstelle ich Stapel von Büchern, deren Atmosphäre ich für mein nächstes Buch zu brauchen glaube, als materialisierte es sich durch diesen Akt von selbst.

Das Schöne am Bücherregalsortieren ist, dass es ein analoger und haptischer Akt ist. Er beansprucht einen gerade so sehr, dass man nicht in Versuchung gerät, währenddessen das Handy zu checken oder nur mal eben schnell zwanzig News-Tabs zu öffnen. Bücherregalaufräumen verankert einen in der Welt der Körpersinne. Man bewegt sich. Man kommt, je nach Größe des Regals, sogar ins Schwitzen. Und während Lesen sehr enttäuschen kann, weil man sich nicht auf eine Geschichte einlassen kann oder sich mehr von ihr versprochen hatte, enttäuscht Bücherregalaufräumen nie. Man ist dem Lesen dabei ja trotzdem sehr nah. Man blättert überall mal rein, entdeckt drei große Sätze, ergötzt sich am eigenen Bücherreichtum, schwimmt darin wie Dagobert in seinen Millionen. Man wiegt sich in dem herrlichen Wissen, so viel zu lesen zu haben, dass einem auch in ewig andauernder häuslicher Quarantäne niemals langweilig würde und ist doch froh, sich gerade für keines entscheiden zu müssen. Lieber möchte man noch etwas länger davon träumen, wie der perfekte ohrensessel- und rotweinhafte Lesemoment sich anfühlte, wenn er denn erst einmal einträte, irgendwann, sicher bald, so, wie das absolute Lebensglück ja auch zeitlebens auf einen wartet und sich nie als das entpuppt, was man sich davon versprochen hatte. Man versteht beim Bücheraufräumen einmal mehr, dass Vorfreude die schönste Freude ist.

Bin ich vorerst fertig mit dem Sortieren meines Regals, setze ich mich davor und gucke es glücklich an. Höre dem angenehmen Geflüster zwischen den Buchdeckeln zu. Was für irre Geschichten sich jeweils zwischen zwei seltsam starren Buchdeckeln abspielen. Und was erst geschieht, wenn zwei nebeneinander stehen, die sich etwas zu sagen haben. Eigentlich müssten sie andauernd aus den Regalen springen. Aber sie tun es nicht. Sie bleiben da. Und leisten mir geduldig Gesellschaft. Immer. Hinter jedem Buch mindestens ein Mensch, der mir auf ein paar hundert Seiten sein Innerstes offenbart. Jede Geschichte voller unsterblicher Leidensgenossen. Wer hats besser, sie oder ich? Egal: In der Gesamtheit bilden sie einen tröstenden Chor voll wilder Weisheit. Ohne kann ich nicht leben. Andere gehen in die Kirche. Ich setze mich vor mein Bücherregal.