An der Wand

Ich sammle seit vielen Jahren in Notiz- und Skizzenbüchern nicht nur Notizen, sondern vor allem Ausgerissenes und Eingeklebtes – in dieser Kolumne erzähle ich mindestens einmal im Monat zu ausgewählten Seiten kleine Geschichten. Um keine Folge zu verpassen, bitte meinen Newsletter abonnieren.

Wer hängt sich eigentlich Fotos von fremden, längst verstorbenen Menschen ins Haus und warum? In diesem Fall (links) auch noch Sportmannschaften, Klassenfotos oder eine andere Art der Gruppenabbildung? Wohnt hier jemand, der sich tatsächlich an jemanden erinnern möchte, der auf diesen Bildern abgebildet ist? Eifert hier jemand dem Mannschafts- und Uniformierungsgeist hinterher, der durch diese Bilder weht? Oder ist es andersrum und hier lebt jemand, der sich genau davon ironisch distanzieren möchte, bei jeder Betrachtung also froh ist, eben keiner Mannschaft oder Gruppierung anzugehören? Sind die Gruppenfotos ihm eine Mahnung: Werd‘ bloß nie so?

Vielleicht handelt es sich hier aber auch um gar keine selbst gestaltete Privatwohnung, sondern um das Interieur einer Bar – sagen wir den mit einem Waschbecken ausgestattete Vorraum einer Männertoilette. Immerhin wäre das heimische Bad schon aufgrund des erhöhten Wasserdampfvorkommens als Ausstellungsort für gerahmte Fotografien eher untauglich. Es könnte sich um eine gegen 2015 eröffnete Sportsbar mit Drang zum Höheren handeln, angesiedelt im Prenzlauer Berg und ausgestattet mit dem entsprechenden Namen: Mannschaftsraum, Locker room, Gruppenfoto, Sportsbar, Anpfiff, Belegschaft.

Möglich ist auch, dass hier jemand lebt oder gestalterisch tätig war, der überhaupt keinen Bezug zu diesen Bildern pflegt, sondern sie als bloße Dekorationsobjekte installiert hat, weil etwa eine Art Eva Brenner von Mein Zuhause Richtig Schön (grammatikalische Analyse dieser Fernsehsendungstitelkonstruktion ein anderes Mal) ihm drei Umgestaltungspakete zur Auswahl präsentiert hat: Shabby Boho, Cosy Scandi oder Vintage Boardingschool?

Wieso ist diese letztere Theorie jene, die einen seelisch am leersten zurücklässt? Vielleicht, weil man dahinter mangelnden Charakter vermutet: Wer die Gestaltung seines Wohnraums anderen überlässt, überlässt sicher auch die Gestaltung seines Innenlebens anderen. Möchte man mit so jemandem verkehren? Weniger.

Die Frage jedenfalls, was man selbst und was andere sich an die Wände hängen und warum, führt zu interessanten Einsichten, mit denen man sich stunden- vielleicht tage- oder auch ein Leben lang beschäftigen kann.

Wen es nach etwas Selbsterkenntnis dürstet ohne gleich zur Therapie zu gehen, braucht ja nur einen Rundgang durch die eigenen Gemächer unternehmen und sich zu den Ausstellungsstücken befragen: Warum durfte dieser gerahmte und mehrmals geflickte Zeitungsausriss als einziges Stück nicht nur alle meine Jugendzimmer besiedeln, sondern auch mit in jede Wohnung meines Erwachsenenlebens reisen, während fast alles andere Aufhängematerial mit der Zeit wieder aus meinem Leben verschwand?

Warum die in die Wand genagelte Kerze, die niemals brennt, warum der angeschnittene, hinter einem viel zu großen Blumenstrauß versteckte Michael Jackson, warum die Einkaufstüte mit dem Schriftzug OK, die Speisekarten, das Marlene Haushofer-Stück, das Paradiso Perduto-Plakat aus der Scala, die gerahmte Kette, die gerahmten Taschentücher aus Varese, warum M. und ich in der Wildwasserbahn?

Und woher so oft der Drang, alles abzunehmen, die Wände ein paar Wochen lang ganz weiß und leer zu lassen, und dann völlig Neues dranzuhängen oder Altes umzuhängen? Oder vielleicht die Wände nicht mehr mit Bildern, sondern fortan mit Kleidungsstücken zu dekorieren, die man ohnehin gern öfter sähe: der Leopardenmantel (rechts), die silberne Tasche, die roten Schuhe.

Jedenfalls kann, wenn man es sich genau überlegt, mindestens eine Fotografie fremder Toter im Haus wirklich nicht schaden – fremde Tote sind mit ihrer Anonymität die perfekte Projektionsfläche für Sorgen, Fragen und Antworten aller Art.

Im Grunde sind sie wie Spaziergänge über alte Friedhöfe entlang fremder Gräber: Jeden Tag geben sie einem neue Rätsel auf, jeden Tag erzählen sie einem genau die Geschichte, die man gerade braucht – und sei es nur diejenige, wie schnell das eigene Leben vergessen sein wird und dass niemand anders es erlebt haben wird als man selbst und dass man sich deshalb viel weniger sorgen muss, als man ständig glaubt.

Fremde Tote sagen: Ich war nicht glücklicher oder unglücklicher als du, und wenn du kurz zuhörst, verrate ich dir darüber einen Satz oder zwei.