Hallo?

Hallo?

Erschienen im ZEIT MAGAZIN

Ich betrete das Büro einer Redakteurin, mit der ich einen meiner Texte besprechen will. Sie ist 20 Jahre älter als ich, aber wir duzen uns. Zur Begrüßung strecke ich ihr die Hand hin, sie nimmt sie, zieht leicht daran und kommt zugleich einen Schritt näher. Ist das der Auftakt einer Umarmung? Streift ihr Blick nicht meine rechte Wange? Wangenkusswahrscheinlichkeit 92 Prozent, Erstkontakt voraussichtlich rechts! Ich lasse ihre Hand los, aber nur um die Arme zu öffnen, und falle ergeben nach vorn, in die Sphäre fremder Körperwärme, rieche bereits diese Melange aus Waschmittel, Tagespflege und Haut, da tritt sie plötzlich zurück, und ich verstehe. Das war kein Auftakt zur Umarmung. Das war nur ein Wanken in meine Richtung. Sofort alles abbremsen. Ich ziehe meinen Körper zurück wie eine Schnecke ihre Fühler, doch da beugt nun sie sich in meine Richtung, um die verirrte Umarmung höflich aufzufangen. Nur bin jetzt ich schon wieder weg, und sie hängt allein in der Luft.

Willkommen im hölzernen Ballett der zeitgenössischen Begrüßung, das unzählige Varianten kennt. Und doch an Ort und Stelle niemals thematisiert wird. Zu banal das Ereignis, zu groß die Angst, durch das Draufrumreiten als zwanghaft zu gelten. Dabei wäre eine kurze Klärung vor allem im Hinblick auf die anstehende Verabschiedung hilfreich. Aber was soll man auch sagen? „Entschuldigen Sie, nur schnell wegen später, wie wollen wir es denn nun halten, Händedruck oder Umarmung, linksrum, rechtsrum? Küsschen? Wie viele? Rückenklopfer? Wie viele? Thema Augenkontakt, welche Intensität wäre genehm?“

Einige Sachen hat man als erwachsener Mensch nicht mehr zu besprechen, sondern zu beherrschen. Ich aber habe leider das Begrüßen nie ganz begriffen. Ich begreife es sogar immer weniger. Meine neueste Strategie, um Begrüßungsunfällen zu entfliehen, ist eine Art Krebsgang. Ich komme auf schwer lesbare, leicht seitwärts gewandte Weise auf die zu Begrüßenden zu, hebe mit dem ehrlichsten und herzlichsten Lächeln, das meine Mimik hergibt, unkoordiniert die Hand und lasse sie wackeln, bis sich die entsprechende Person aufgrund meiner nicht ganz zu-, aber auch nicht ganz abgewandten Körperhaltung damit abgefunden hat, dass hier weder Umarmung noch Handschlag folgen werden. Wenn das geklärt ist, werde ich wieder zum Menschen. Erst etwa eineinhalb Minuten vor der Verabschiedung verwandle ich mich erneut in eine Krabbe und bewege mich locker plaudernd Richtung Tür, sodass ich im Moment des Abschieds schon hoffnungslos weit weg stehe und wir uns mit einem heiteren Abschiedswinken begnügen können.

Dass heute aufgrund mangelnder Etikettenpflicht jeder jeden so begrüßen und verabschieden kann, wie er oder sie das für richtig hält, produziert nichts als ein russisches Roulette der Peinlichkeiten. Die einzig gültige Regel lautet: Hauptsache, lässig. Zu dumm, dass Lässigkeitsbefehle grundsätzlich ihr Gegenteil bewirken. Oft wünsche ich mich in Sachen Grußgesten zurück ins Kindesalter. Als Kind macht man es wie immer am besten. Man hat noch die Erlaubnis zum ganz normalen Hallo-Sagen. Man darf unkoordiniert winken, darf völlig Fremden in die Arme stürmen und sich von ihnen herumwirbeln lassen. Wem man hingegen nicht Hallo sagen will, dem sagt man auch nicht Hallo. Zwischen drei und dreizehn lernt man zwar verschiedene Winktechniken und Grußvokabeln, aber das Begrüßen und Verabschieden selbst bleibt unkompliziert. Bis die Pubertät folgt. Und mit ihr die ersten gruppenspezifischen Grußgesten. Wer damit eigentlich angefangen hat, lässt sich nie rekonstruieren. Aber irgendeine Freundin hat es getan, hat einen zum allerersten Mal an der Bushaltestelle umarmt statt nur die Hand gehoben. Das erste Mal dem „Ciao“ einen Wangenkuss angehängt. Oder, als Zeichen besonderer Verschworenheit nach dem Lästern über fiese Typen, einen Mundkuss. Wann haben die Jungs das Fäuste-Aneinanderknallen entdeckt? Wann die High-Fives? War es ein Vater, der seinem Sohn gesagt hat: Kind, ab jetzt bei anderen Jungs nur noch halbe Umarmungen mit Rückenklopfern?

Und wie kommt es, dass ich nie einer Clique angehörte, in der man sich mit Küsschen-Küsschen begrüßte? In meinem Umfeld etablierte sich damals die freundschaftliche Umarmung als Gruppenstandard. Ich hatte sie bald schon für jeden übrig. Zwischen 16 und 23 war ich eine dermaßen überzeugte Umarmerin, dass nicht einmal der Mann hinter der Käsetheke davon verschont geblieben wäre, wenn nicht der Käse im Weg gewesen wäre. Händedruck? Seelenlos. Sollten Schuldirektoren machen. Nicht ich. Meine jugendlichen Umarmungen fand ich so lässig wie universal, ich war froh, endlich eine Form gefunden zu haben, mit der Welt in Kontakt zu treten. Man kann sich meinen Gesichtsausdruck bei diesen neu eingeübten Umarmungen ähnlich euphorisch vorstellen wie den der vierjährigen Prinzessin Charlotte von Cambridge, als sie kürzlich auf dem Weg ins Krankenhaus zu ihrem neugeborenen Bruder Louis der ganzen Welt zeigen durfte, wie royal sie schon winken kann.

Mittlerweile bin ich die ewigen Umarmungen leid. Sie fühlen sich nicht mehr richtig an. Schon allein, weil jede körperliche Geste zwischen zwei Menschen ein Symbol für den Intimitätsgrad ihrer Beziehung ist. Eine Umarmung bietet kaum Steigerungspotenzial. Und gleichzeitig verliert die Umarmung, wenn sie inflationär verteilt wird, ihren symbolischen Wert. Sie wird zu der hohlen Geste, die sie ursprünglich ersetzen sollte. Doch wie soll ich jemandem, den ich schon einige Male umarmt habe, die Umarmung wieder entziehen? Und was ist überhaupt die Alternative? Der Handschlag ist mir für die meisten Begegnungen zu kühl.

Und hier liegt das Problem: Zwischen Handschlag und Umarmung klafft ein begrüßungsritueller Graben, den es vor ein paar Jahrzehnten vermutlich noch nicht gab. Reihenweise fallen Begrüßungen in diesen Graben hinein und arten zu slapstickhaften Missgeschicken aus, weil hier die Etikette fehlt. Es fehlt in diesem Graben an einem Kompromiss zwischen Handschlag und Umarmung. An einer Geste, die den zeitgenössischen Temperaturen des Miteinanders gerecht wird.

Es ist doch auch kein Zufall, dass sich dieser Tage gefühlt jeder zweite erwachsene Mensch als socially awkward, sozial ungeschickt, bezeichnet. Seit Jahren wird nun schon mit diesem Begriff kokettiert: in Fernsehserien, auf Blogs, in GIFs, in Memes, auf YouTube und auf Instagram. Gemeint ist die Unfähigkeit, Small Talk zu betreiben, angemessen zu grüßen, fremde Menschen einander charmant vorzustellen. Die Selbstdiagnose der social awkwardness zeugt selten von einer tatsächlich pathologischen Störung, sondern vielmehr von dem Unwillen, sich uralten sozialen Codes zu beugen. So ist es jedenfalls bei mir. Ich bin mir aufgrund meiner antiautoritären Erziehung und meines die social awkwardnesskultivierenden Umfelds zu sehr bewusst, wie sympathisch diese Tollpatschigkeit erscheint, um sie zu überwinden. Ein US-amerikanischer Psychologe und Autor namens Ty Tashiro hat ein ganzes Buch zum Thema geschrieben: Awkward. The Science of Why We’re Socially Awkward and Why That’s Awesome. Wer zugibt, dass er mit den alltäglichsten gesellschaftlichen Erwartungen nicht klarkommt, ist jedem sofort sympathisch. Wir kämpfen doch alle. Das Leben ist ein Rätsel, und Schwäche macht Freunde. Wenn man mit diesem Eingeständnis und ein paar Lachern durchkommt, warum dann noch gesellschaftliche Wendigkeit anstreben?

Kein Wunder, dass mich meine Unfähigkeit, angemessen zu grüßen, an meine Unfähigkeit zu tanzen erinnert. Auch die ist keine genetische Störung, sondern mein bloßer Unwille, so etwas Altmodisches wie den klassischen Tanz zu erlernen. Freestyle reicht doch, dachte ich immer. Doch Freestyle reicht eben nicht, zumindest nicht, wenn die Hintergrundmusik nach klassischem Tanz verlangt. Bedeutet es nicht vielleicht mehr persönliche Freiheit, gewisse Regeln des Miteinanders zu beherrschen, als sie unter fauler Berufung auf Freigeistigkeit zu verweigern?

Ich habe mich gefragt, ob diese Begrüßungsunsicherheit ein spezifisch deutsches Problem ist. Aber leider habe ich bisher mindestens so viele Franzosen, Italiener und Spanier getroffen, die mich nicht, wie es das Bilderbuch der Nationalklischees vorsieht, mit wahlweise zwei, drei, vier Küsschen begrüßt haben. Sie sind ebenso hilflos um mich herumgestolpert wie ich um sie. Das Hinblicken zu anderen Kulturen in Sachen Begrüßung bleibt also folkloristisch verblendeter Schwachsinn. Oder wie viele Hawaiianer haben Sie schon getroffen, die einander ernsthaft mit Shaka begrüßen, dem hawaiianischen Handgruß, bei dem lässig Daumen und Zeigefinger von der Faust abgespreizt werden? Und welcher normalurbane Neuseeländer praktiziert noch Hongi, das Erspüren der Atemseele nach Art der neuseeländischen Maori? Außerdem: die Atemseele Wildfremder erspüren? Dann doch lieber eine schnelle Umarmung! Die Auflösung der Begrüßungsetikette scheint jedenfalls ein globales Problem zu sein. Die Einzigen, die in Sachen Etikette noch Souveränität besitzen, sind Menschen, die sehr alt sind, einem Königshaus angehören, in der Politik tätig oder Papst sind.

Wie nun die Sache mit der Begrüßungssouveränität für den Rest der Menschheit retten? Welche Konstruktion taugt als neue Brücke über den Graben zwischen Handschlag und Umarmung für alle, die keine engen Freunde, aber trotzdem freundliche Menschen sind? Küsschen-Küsschen? Choreografisch ähnlich anspruchsvoll und nervig wie die Umarmung. Fäuste aneinanderdrücken? Victoryzeichen? Zu wenig neutral. Grußformen mit Gang-Ästhetik vermitteln einen zu exklusiven, eingeschworenen Charakter. Begrüßungen können auch ausgrenzend wirken, und das sollen sie natürlich in den wenigsten Fällen.

Vielleicht würde es sich ja schon lohnen, wieder mehr auf die Feinheiten zu achten. Und diese nach eigenem Ermessen zu kultivieren. Ein einfacher Händedruck kann schließlich auf unterschiedlichste Art ausgeführt werden. Es muss nicht der dreimal auf und ab geschüttelte Herzlichen-Glückwunsch-zum-Bausparvertrag-Händedruck sein, es geht auch sanfter (womit natürlich niemals schlaff gemeint ist). So ein eineinhalb Sekunden zu langer Händedruck mit der entsprechenden Intensität in Sachen Augenkontakt und einer Hand auf der Schulter kann mehr sagen als ein heimlicher Liebesbrief. Und zu den berührendsten Gesten der Welt zählt doch auch das Umfassen einer hingestreckten Hand mit beiden Händen. Darin liegt so viel Würde, Zugewandtheit, Dankbarkeit, dass ein ganzer Raum darüber verstummen kann. Umso weniger eignet diese Geste sich natürlich für jeden Tag. Das Handgeben mit zwei Händen sollte vorbehalten sein für große Momente.

Charmant wäre auch eine leichte Verbeugung, vielleicht sogar mit der Andeutung eines ostasiatischen Händefaltens unter dem Kinn. Um der Geste ihre Distanziertheit zu nehmen, kann man intensiven Augenkontakt und ein kokettes Lächeln addieren. Das käme dann auch jenen Sonderlingen zugute, die den Handschlag aus hygienischen Gründen verweigern.

Ich sehe ein, dass es nicht möglich sein wird, eine neue verbindliche Etikette unter die Leute zu bringen. Aber mehr Sorgfalt und Kreativität im Umgang mit dem eigenen Begrüßungssortiment finde ich trotzdem ratsam. Unter Freunden zum Beispiel statt der ewigen Umarmung einfach mal wieder Luftküsse verteilen. Und unter Fremden, Kollegen, Bekannten und sonstigen Hybriden bitte weniger kindisches Wegducken und mehr Wille zum gelungenen sozialen Tanz.

Denn das Gejammere über die eigene Unbeholfenheit in Sachen Begrüßungen ist doch im Grunde peinlich und egoman. Es geht bei der Begrüßung und dem Verabschieden einer Person schließlich endlich einmal nicht um einen selbst. Es geht um das Gegenüber. Es geht darum, miteinander in Kontakt zu treten. Mit einer Begrüßung will man seit Menschengedenken Sicherheit und Sympathie vermitteln, friedliche Verträge schließen. Man zeigt die leeren Hände und gibt zu erkennen: Keine Waffen dabei. Man blickt sich in die Augen: Ich sehe dich und meine dich und meine es gut. Darauf könnte man doch mal wieder vertrauen. Und sich dann ohne viel Nachdenken führen lassen. Oder selbst die Führung übernehmen. Und wenn es trotzdem schiefgeht, ist die Herausforderung eben, es auszuhalten. Und den Takt, so schnell es geht, wieder aufzunehmen. Hauptsache, man hat von dem Tanz schon mal gehört.