Ich habe mittlerweile über 50 Notiz- und Skizzenbücher, in denen ich seit vielen Jahren nicht nur Notizen sammle, sondern vor allem Ausgerissenes und Eingeklebtes – in dieser Kolumne erzähle ich mindestens einmal im Monat zu ausgewählten Seiten kleine Geschichten. Um keine Folge zu verpassen, bitte meinen Newsletter abonnieren.
Zwei Dinge, die mich als Kind sehr und dann viele Jahre lang nicht mehr interessiert haben: Katzen und Kostüme. Meine Großeltern hatten einen Kater, den ich jedes Mal, wenn er an mir vorbeischlich, am Schwanz festhalten musste, damit er anhielt und bei mir blieb. Ich konnte nicht anders. Er bestrafte mich sofort und ich erinnere mich genau an das Gefühl von scharfen Katzenkrallen auf meinen Händen und Armen, heiß und brennend, vor allem heiß, entzündet, ärgerlich, manchmal fing ich an zu weinen. Viele der durch die Kratzer auf mich übergegangenen Parasiten und Bakterien treiben möglicherweise noch heute ihr Unwesen in meinem Körper.
Das Eine ist, zu weinen, weil die aufgerissene Haut schmerzt, das Andere ist die Trauer ob der schmerzhaften Feststellung, dass man Zuneigung nicht erzwingen, sondern höchstens einladen kann. Mit nur einem Hauch metaphorischer Veranlagung dräut einem in diesem Moment bereits als Kind, dass dies nicht bloß für die Zuneigung von Lebewesen gilt, sondern auch für die Zuneigung von glücklichen Zufällen und anderen Gütern des Lebens.
Aber dann ist da noch etwas Drittes: Die Ahnung, dass man den gleichen Fehler wider besseren Wissens noch sehr oft machen wird. Von überall flogen Stimmen heran, die mir mit der gleichen Unbeirrbarkeit, mit der ich den Kater festzuhalten versuchte, sagten, was ich längst wusste: Du sollst ihn nicht am Schwanz ziehen, er mag das nicht, lass das, du bist selbst schuld, wenn er dich kratzt, so funktioniert das nicht.
Ja, sagte ich schuldbewusst, so funktioniert das nicht, und ich werde damit aufhören. Doch der Kater lief wieder an mir vorbei, und wieder war sein Fell so schön, sein Schnurren so beruhigend und sein Körper so angenehm schwer, wenn ich irgendwo saß oder lag und er sich mit zögerlichen Pfoten über mich hinweg bewegte. Wenn er in meiner Nähe war, ging es mir besser, ich wurde angenehm müde und wollte mit dem Kater in meinem Arm oder auf meinem Bauch einschlafen und lange träumen.
Ich übte, ihn so sanft am Schwanz zu ziehen, dass er es vielleicht gar nicht merkte und dachte, er sei aus eigenem Willen zum Stehen gekommen. Als meine Mutter nicht viel später in anderem Kontext zu mir sagte, ich besitze manipulative Eigenschaften, wusste ich nicht, was sie damit meinte, aber möglicherweise meinte der Kater das gleiche und sagte es mir mit Krallen statt mit Worten.
Später hielt ich mich von Katzen fern. Eine Weile lang hielt ich eine Hausstaubmilbenallergie für eine Katzenallergie und hatte einen Grund mehr, Katzen nicht mehr zu lieben. Wenn ich welche sah, guckte ich sie feindselig an, ich vertraute ihnen nicht, und zwar keiner von ihnen, ich war möglicherweise immer noch auf die hilfloseste Art beleidigt, das heißt: ohne bewusst eine Verbindung zu damals herzustellen. Die Katze einer Freundin biss mir nachts aus Vergnügen in die Füße, ich hasste sie, die Katze einer anderen Freundin kratzte mich plötzlich, wenn ich las, ich sperrte sie bei einem Besuch bei ihr aus dem Schlafzimmer aus, wofür ich die Tür mit einem Koffer verriegeln musste. Sobald ich rauskam, griff sie mich rachsüchtig an.
Im vergangenen Jahr begann ich Katzen wieder zu mögen. Es begann mit einem sanftem Interesse, das mich selbst erstaunte. Aus einer angenehmen Langeweile heraus beobachtete ich eine fremde Katze in einem Ferienhaus in Frankreich. Ich stellte fest, dass ich sie weder fürchtete, noch etwas von ihr wollte. Ich sah ihr bloß zu, beobachtete, wie sie sich bewegte. Ich dachte: Wäre ich eine Tänzerin, würde ich einmal so tanzen wollen, wie eine Katze sich bewegt.
Nach einigen Tagen kam sie näher, manchmal blieb sie, manchmal bot sie mir ihre Pfote an, als wolle sie mir die Hand geben. Doch so bald ich zugreifen wollte, zeigte sie mir die Krallen. Sie kratzte mich nicht, sie zeigte sie mir bloß. Ich nahm die Signale hin und ließ sie. Ich wollte schon lange nicht mehr gekratzt werden.
Eines Nachts konnte ich nicht schlafen, ich war allein und hatte Angst vor etwas und weinte, da kam die Katze und manövrierte langsam mit sanften Pfoten ihren angenehm schweren Körper auf mich und rollte sich auf mir zusammen. Wir schliefen ein und träumten lange.
Um Kostüme wird es ein anderes Mal gehen. Ich wusste nicht, dass mir soviel zu Katzen einfallen würde. Meine Texte für diese Kolumne dürfen nicht zu lang werden, wie mir aus der Chefetage des Verlagshauses, in der alle Posten von mir selbst besetzt sind, zugetragen wurde.
Mein oben abgebildetes Notizbuch zeigt Ausrisse aus einer italienischen Zeitschrift, die mehrere Ausstellungen über die italienische Künstlerin Leonor Fini thematisierte. Eine fand vom 2. April 2022 bis zum 25. Juni 2022 in der Galleria Tommaso Calabro in Mailand statt. Ich habe sie leider verpasst, da ich das Magazin erst Monate später in einem italienischen Supermarkt gekauft habe.
Es ist in Italien üblich, dass Magazine, die großen Tageszeitungen beiliegen wie in Deutschland das SZ- oder das ZEIT-Magazin, aus diesen Zeitungen herausfallen und dann noch Monate lang im Supermarkt herumliegen. Man kann sie dann für um die 50 Cent separat kaufen. Da aber anscheinend außer mir kaum jemand diese alten Hefte kauft, wissen die Kassierer oft nicht viel damit anzufangen und müssen erst Kollegen fragen, wie sie das Heft abrechnen sollen.
Leonor Fini wird gern unter anderem als Surrealistin bezeichnet, lehnte diese Bezeichnung aber zu Lebzeiten genau wie die dogmatischen Manifeste und Regelwerke von Salvador Dalí und Kollegen leidenschaftlich ab. Sie umgab sich am liebsten mit Tieren und Pflanzen, denen sie sich näher fühlte als Menschen.
Außerdem verkleidete sie sich gern. Auf dem linken Ausriss vermutlich als Krokodil. Ihre Liebe zu Kostümen geht auf eine verrückte Geschichte in ihrer Kindheit zurück, die sich meiner Meinung nach für mindestens einen halben Roman eignet. Doch dazu ein anderes Mal mehr. Entweder in einem Roman, oder wenn ich in der nächsten Folge über meine verlorene und wiedergefundene Liebe zu Kostümen schreibe.