Das Gesicht der Frau mit der angeklebten roten Jacke ähnelt Léa Seydoux oder Scarlett Johansson, aber sicher bin ich mir nicht, möglicherweise stammt es nur von einem Model, das den beiden Schauspielerinnen ähnelt.
So geht es mir oft auch im echten Leben, ich sitze im Bus und plötzlich glaube ich, hinter jemandem zu sitzen, den ich kenne, aber sicher bin ich mir nicht. Ist das nicht meine Schwester da vorn? Die Frisur passt, die Struktur der Haare auch, und in den Sekundenbruchteilen, in denen sie ihren Kopf so neigt, dass ich die Silhouette ihres Gesichts erahne, bin ich fast sicher, das kann nur meine Schwester sein.
Doch die Schwester, die ich meine, lebt in Wien, was könnte sie an einem Montagnachmittag in der Buslinie 142 zur Münchner Freiheit machen, ohne dass ich von ihrer Anwesenheit in der Stadt wüsste? Führt sie ein Doppelleben, lebt sie seit langer Zeit schon nicht mehr in Wien, macht sie uns allen etwas vor – oder nur mir, möchte sie aus irgendwelchen Gründen nicht, dass ich weiß, dass sie jetzt hier lebt, während meine anderen Geschwister eingeweiht sind?
Oder ist es möglicherweise eine andere Schwester von mir, eine, die ich nie kennengelernt habe, eine dieser verloren gegangenen oder verstoßenen, zur offiziellen oder inoffiziellen Adoption freigegebenen geheim gehaltenen oder im Krankenhaus abhanden gekommenen Schwestern, deren Existenz in jeder Familie zumindest möglich ist, und die sich jeder einmal imaginiert, möglicherweise sogar wünscht?
Und so wird mir immer heißer im Bus, und ich werde immer nervöser und möchte schon hinüberrufen, stehe schließlich auf und gehe zu ihrem Platz, da sehe ich sofort: nein, es ist alles anders. Der Schwung der Nase ist fremd, die Stirn viel zu hoch, die Mundpartie grotesk anders, nicht einmal mit viel Fantasie könnte sie aus meiner Familie stammen, nicht einmal von einem anderen Vater oder einer anderen Mutter – nur vielleicht das eine Auge, das linke Auge, der Winkel des Lids zum Ohr hin, das könnte noch immer das Auge meiner Schwester sein – diese Frau hat das linke Auge meiner Schwester und weiß nichts davon, aber natürlich gilt das gleiche andersherum, meine Schwester hat das linke Auge dieser Frau.
Möglich ist auch, dass ich keine Gelegenheit gehabt hätte, mich davon zu überzeugen, dass dies nicht meine Schwester war, vielleicht, weil sie vorher den Bus verlassen hätte, um draußen jemandem küssend in die Arme zu fallen, der nicht ihr mir bekannter Freund gewesen wäre, und möglich, dass ich darüber für immer geschwiegen hätte ohne je den Verdacht auszuräumen, sie habe eine geheime Affäre.
Vorstellungen dieser Art sind so reizvoll wie beängstigend, vor allem, wenn man sie umdreht: immerhin könnte es auch vorkommen, dass jemand anders mich irgendwo bei etwas zu beobachten glaubte, das mir unangenehm wäre, doch in Wahrheit wäre es gar nicht ich gewesen, was nur nie jemand aufklären könnte.
Ähnlich peinlich ist das, was mir vermutlich häufiger passiert, als mir lieb ist: ich sage Dinge im Scherz oder mit meiner Meinung nach deutlich erkennbarem ironischen Unterton, doch andere erkennen diesen Scherz oder die ironische Verdrehung nicht und bleiben für immer im Glauben, ich hätte an diesem einen Tag im Juli beim Zusammensitzen im Englischen Garten mit großem Ernst verstörenden Blödsinn geredet. Während sie äußerlich kommentarlos darüber hinweg gehen, notieren sie auf ihrer inneren Karteikarte zu meiner Person ein charakterliches Defizit, das auf einem tragischem Missverständnis beruht – und ich habe es nicht einmal bemerkt.
Und so steigt man aus dem Bus oder geht von dem Treffen nachhause und das eigene Leben geht weiter und alles ist, wie es immer ist: jeder sieht nur das, was seine eigenen zwei Augen sehen.